Interview

„Auf der Suche nach der Patientenmilliarde“

Sie sind im März ins kalte Wasser gesprungen und haben den schwierigen Job des Sozial- und Gesundheitsministers übernommen.
Wie sieht die bisherige Einschätzung aus und was sind die generellen Pläne?

Mein Befund nach den ersten Wochen: Alle müssen sich aus ihren eingegrabenen Positionen herausbewegen und in ein Verhandlungssetting kommen. Ich halte es nicht aus, wenn alle nur entlang der Fragen diskutieren: „Sind wir dafür zuständig?“ und „Müssen wir es zahlen?“ Das betrifft auch die Bundesländer. Dort versuche ich auch, eine Einheitlichkeit in der Einschätzung hinzubekommen. Alle tun so, als kenne das österreichische Gesundheitswesen nur zwei Aggregatzustände – gesund und krank.

Was denken Sie?

Prävention wird etwa ausgeblendet. Wenn wir auch hier wirklich etwas bewegen wollen, müssen wir gemeinsam einen Topf dotieren, um Modellversuche zu organisieren. Aber nicht mit fünf Millionen Euro. Wir müssen da viel größer denken.

Welchen Stellenwert hat evidenzbasierte Medizin im Handeln eines Gesundheits­ministers?

Experten und deren Erkenntnisse nehmen im Gesundheitsbereich einen besonders wichtigen Stellenwert ein. Die Wissenschaft ermöglicht es uns, präzise und schnell auf Herausforderungen reagieren zu können. Für die Politik gilt es, diese Erkenntnisse in die Lebensrealität der Menschen zu bringen und konsequent nach praxistauglichen Lösungen und Regelungen zu suchen.

Die Medizinprodukte-Branche drängt auf bessere Zulassungsbedingungen und sagt, dass sonst nicht alle Innovationen recht­zeitig auf den Markt kommen. Erwachsen den Patienten dadurch Nachteile, weil sie nicht mehr State-of-the-Art versorgt werden können?

Bei der Zulassung von Medizinprodukten hat Sicherheit immer die höchste Priorität. Es ist daher besonders wichtig, dass bei den Zulassungsprozessen auf höchste Präzision und Professionalität gesetzt wird. Durch ein europaweit einheitliches Verfahren können diese beiden Faktoren optimal kombiniert werden. In diesem Rahmen kann auch eine umfassende Nutzenbewertung erfolgen, die für Therapieentscheidungen und den späteren Einsatz eine wichtige Rolle spielt. Die Corona-Schutzimpfung hat etwa gezeigt, wie hier der optimale europäische Weg aussehen kann.

Österreich hat nach wie vor keine „Benannte Stelle“ für die Zulassung von Medizin­produkten. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Haben Sie konkrete Pläne, die Einrichtung einer „Benannten Stelle“ auch zu unterstützen?

Der globalisierte Gesundheitssektor erfordert bei der Zulassung von Medikamenten einheitliche Lösungen, Qualitätsstandards und Zulassungsverfahren und keine nationalen Sonderwege. Deswegen wurden auch in diesem Bereich umfassende EU-Regelungen geschaffen. Die AGES und das Gesundheitsministerium arbeiten bereits an der Realisierung einer Benannten Stelle in Österreich. Die Arbeiten dauern allerdings nicht nur aufgrund der Aufgaben der Corona-Pandemie, sondern auch durch die Komplexität des Prozesses bei der erstmaligen Neueinführung einer solchen Stelle noch an.

Bleibt die generelle Frage im Gesundheits­bereich, woher das Geld kommen soll. Die Kassen erwarten bis 2026 ein ­kumuliertes Minus von 1,5 Milliarden Euro. Jede Gruppe will mehr Geld, gleichzeitig hat man den Eindruck, dass die Kassenfusion nicht fruchtet.

Ich bin permanent auf der Suche nach der versprochenen Patientenmilliarde, die die Kassenzusammenlegung durch Einsparungen hätte bringen sollen. Ich habe sie bis jetzt nicht gefunden. Das Kassenminus wiederum macht mich nur mittelnervös – ich gehe davon aus, dass die Prognose nach dem Vorsichtsprinzip erstellt wurde. Wir beobachten das aber genau. Bewahrheitet sich das, muss man gegensteuern. Dass die Kosten im Gesamtsystem steigen – um das zu sehen, muss ich kein Volkswirt sein. Wir haben aber gerade jetzt viele unbekannte Faktoren. Ich werde mir auch ansehen, in welchen Töpfen der Sozialversicherung welche Reserven vorhanden sind. Als Minister habe ich ja ein Einschaurecht und das nehme ich wahr. Die Kassen sind von der Konjunkturentwicklung abhängig und jetzt verändert sich gerade die Steuereinnahmensituation dramatisch.

Inwiefern?

Wir haben im Herbst vier sich überlagernde Krisen: die Energiefrage, die Teuerung – die uns länger begleiten und auf alle Bereiche durchschlagen wird –, die Pandemie und die Flüchtlingssituation durch den Ukrainekrieg. Entlang dieser Ausgangssituation wird man die Budget- und Finanzausgleichsverhandlungen denken und führen müssen. Die Verhandlungen beginnen jetzt und wir müssen Pflege und Gesundheit als eng zusammengehörend denken. Es geht aber nur unter Mitfinanzierung der Länder. Diese Gespräche werden, salopp formuliert, brutal – alle stehen finanziell an der Wand. Vielleicht ist das aber auch eine gute Möglichkeit, Strukturreformen anzudenken.

Stichwort Pandemie – was werden Sie tun, um die Probleme der vergangenen Jahre zu beheben?

Unter anderem haben die unterschiedlichen Corona-Maßnahmen in den Bundesländern und eine gewisse Sprunghaftigkeit – heute so und morgen so – für Überdruss in der Bevölkerung gesorgt. Ich bemühe mich um mehr Klarheit, Einfachheit und Einheitlichkeit. Bei den Beratergremien gibt es Mehrgleisigkeiten, die in dieser Zeit entstanden sind. Das wird im Wesentlichen auf die Corona-Kommission und GECKO eingedampft. Der Oberste Sanitätsrat bleibt ebenfalls bestehen. Das ist keine Minderschätzung für andere Gremien, aber wir brauchen klarere Strukturen.

Gibt es schon eine Planung für den Herbst?

Seit sechs Wochen machen wir nichts anderes, als den Herbst und den Winter vorzubereiten. Für den Herbst müssen wir in Varianten planen, weil wir nicht wissen, welche Virusvarianten kommen. Wir brauchen einen Werkzeugkoffer – um flexibel reagieren zu können, je nachdem was kommt. Die Grundsätze sind mehr Einheitlichkeit mit den Ländern, mehr Einfachheit und mehr Digitalisierung. Mein Fundament ist das Covid-Maßnahmengesetz. Alle Maßnahmen müssen sich zwischen Verhältnismäßigkeit und fachlicher Begründung bewegen. Wir werden nicht verhindern können, dass jetzt das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Maßnahmen abnimmt – es wird Sommer, die Zahlen sind niedriger, das Wetter ist schön. Dennoch müssen wir die Impfbereitschaft in die Höhe bringen. Die Immunisierung nimmt im Sommer über die Zeit hin ab und wir werden im Herbst Auffrischungen brauchen. Die Botschaft muss dann sein: Wer sich impfen lässt, hat nach einer Woche einen guten Schutz. Wir werden versuchen, das von unten aufzuziehen – in die Betriebe gehen und die Menschen über Ärzte und Apotheken, aber auch Vereine direkt motivieren. Ich lasse mich als Bürger eher von meinem Nachbarn oder Vereinskollegen überzeugen als von einem Gesundheitsminister oder einem Prominenten, der mir das im Fernsehen erzählt.

Das Thema um fehlende Benannte Stellen ist nicht neu. Seit Jahren wird – nicht nur in Österreich, sondern EU-weit – immer wieder nachdrücklich von der Medizinprodukte-Branche darauf hingewiesen, dass die Zulassungsprozesse massiv leiden, wenn die Kapazitäten nicht an­gepasst werden. Mehr betroffene Produkte, strengere Vorgaben bei der Prüfung und weniger Anlaufstellen führen zwangsläufig zu Engpässen. Es ist auch nicht neu, dass die Zulassungsprozesse viel Zeit in Anspruch nehmen und für alle Beteiligten in dieser Form erstmalig durchlaufen werden. Es braucht Lernprozesse, aber auch Mut zur Umsetzung und Mut, endlich vom Reden ins Tun zu kommen. Es liegt in der Verantwortung der Bürokratie auf EU-Ebene und in Österreich, die Prozesse zügig abzuschließen. Denn eine Benannte Stelle in Österreich zu haben, ist essenziell für den Standort, die Wertschöpfung und für Betriebsansiedlungen.