Die Digitalisierung im Gesundheitswesen dreht sich aktuell vorwiegend um den Datenschutz, Finanzierungsfragen oder Grenzen und Möglichkeiten konkreter Anwendungen – handfeste Themen mit ebenso handfesten Pro- und Contra-Standpunkten. Eine ganz andere Seite beleuchtet hier das Konzept des sogenannten „Digitalen Humanismus“. Es stellt den Menschen wieder ins Zentrum technologischer Entwicklungen und macht ihn zum Maßstab im
digitalen Zeitalter. Zugleich ist es ein ethischer Appell, das Digitale stärker an die menschliche Kultur anzupassen – und nicht umgekehrt. Gesellschaftliche Werte müssen demnach Eingang
in die Welt von Algorithmen, Programmen und Online-Geschäftsmodellen finden. „Viele Menschen fühlen sich von einem zu engen Fokus auf reine Digital Skills nicht angesprochen, wodurch dringend benötigte Talente mit wichtigen Perspektiven für den digitalen Wandel verloren gehen. Deshalb erfordert es transdisziplinäre Konzepte, die digitale Technologie und Kreativität, Wissenschaft sowie Kunst, Geist und Körper, analytisches Denken und emotionale Intelligenz, theoretische Reflexion und anwendungsbezogenes, problem- und projektbasiertes
Lernen integrieren“, erklärt Hannes Raffaseder, Mitglied der Geschäftsführung der FH St. Pölten und Leiter des Digital Makers Hub, einleitend auf einem virtuellen Podium.
Digitalisierung war lange Zeit ein Hoffnungsträger für das Empowerment der Zivilgesellschaft. Die Mythen am Beginn der Internetzeit waren von „Early Adoptern“ geprägt, die individuelle Kreativität steigern und gesellschaftliche Veränderung bewirken wollen. Mitte der 1990er-Jahre sah man dann im World Wide Web eine neue Chance der Demokratie – leider haben wir die dümmste Form davon gewählt, indem das Internet durchgängig kommerzialisiert wurde und letztlich Produkte zu wertlosen Commodities gemacht hat. Die Demontage von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und die Welle der Privatisierung hat mehr Werte einer Gesellschaft ins Wanken gebracht als die Dehumanisierung durch die digitale Welt.
Mit der Pandemie erleben wir die wohl größte digitale Immigrationswelle seit Erfindung des Internets – mit dem Unterschied, dass sich das kaum jemand freiwillig ausgesucht hat. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir die Defizite der kulturellen Bevölkerung im digitalen Raum aufholen müssen, denn dieser Raum ist nicht nur eine technische Infrastruktur, sondern ein Lebensraum! Und hier brauchen wir Standards und Rechte, die wir auch aus dem realen Raum kennen und schätzen. Daher ist der digitale Humanismus ein enorm wichtiges Thema, das man noch um viele Facetten wie den digitalen Sozialismus oder den digitalen Spiritualismus erweitern sollte. Wir müssen uns nur fragen: Was wollen wir am Übergang von der analogen zur digitalen Welt mitnehmen?
Es ist nicht die Technik, die falsch ist, sondern das, was wir damit machen. Oder anders gesagt: Nicht die Digitalisierung verändert die Welt, sondern sie verändert unser Vermögen, die Welt zu gestalten. Wir brauchen keine neuen Menschenrechte, wir brauchen ein Verantwortungsbewusstsein, wie jeder von uns mit der Technik umgeht.
Der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach hat mit uns gemeinsam an neuen Menschenrechten gearbeitet, die digitale Selbstbestimmung und künstliche Intelligenz beinhalten. Die Vorschläge umfassen sechs neue Grundrechte zu Umweltschutz, Globalisierung
und Digitalisierung. Wir haben uns im Zuge der Erarbeitung auch gefragt, was die Menschenpflichten sind. Nur wenige Monate später stehen wir vor so einer Menschenpflicht – das Impfen hat zur empfindlichen Spaltung der Gesellschaft geführt und eine Auseinandersetzung über Individualismus kontra Kollektivismus angestoßen.
Ich denke, dass uns Algorithmen schon viel früher fragmentiert haben und viele ein Leben als abgezirkelte Ultraindividualisten führen. Die Fragmentierung spielt sich in immer kleineren Blasen ab, bis jeder selbst seine eigene Blase ist. Es ist zu klären, wie eine Ethik der Algorithmen auszusehen hat, und das stellt uns vor eine gewaltige Aufgabe. Insgesamt bin ich nicht so skeptisch, dass der Mensch bei aller Digitalisierung auf der Strecke bleibt, denn wenn man die Probleme sieht, kann man sie auch angehen!
Die Technologie hat ein großes Potenzial, vor allem im Gesundheitsbereich. Wir sehen aber auch, dass der digitale Kapitalismus hier eine große Rolle spielt. Der menschliche Körper ist das nächste große Territorium, das Firmen besetzen wollen. Im Future Health Lab setzen wir daher bewusst auf Innovationen für das Gesundheitssystem, die nicht aus der Perspektive von Einzellösungen zu sehen sind. Es gibt keine Gamification-Antwort auf den Pflegenotstand oder einen technologischen Fix gegen chronische Erkrankungen. Wir haben eine systemische Perspektive auf Gesundheitsinnovationen und müssen integriert denken. Dazu gehört die Frage, welche Rolle nicht-menschliche Akteure im Gesundheitssystem haben, wie etwa die Stadtplanung auf die Gesundheit. Gerade im sensiblen Gesundheitsbereich braucht es einen fairen Prozess bei dem die Bevölkerung in voller Transparenz über die Beweggründe von politischen Entscheidungen aufgeklärt wird („accountability for reasonableness“). Wichtig ist dabei das Schaffen von Transparenz über Gründe und Grundlagen einer Entscheidung, die Bezugnahme auf moralische Prinzipien, die von allen als relevant akzeptiert werden können, und ein Prozess, der es der Bevölkerung ermöglicht, Entscheidungen zu diskutieren und im Dialog mit Entscheidern zu hinterfragen – das wäre aus meiner Sicht ein wesentliches Element der deliberativen Demokratie. Die besten Beispiele sind die Maßnahmen während der Pandemie. Das Netz ist voll von interessengeleiteten Informationen unklarer Herkunft. Diese Irreführung ist besonders kritisch, wenn es um die Gesundheit geht. Daher brauchen wir mehr digitale Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung.
Uns beschäftigt die Frage, wie digitalisierte Inklusion und inklusive Digitalisierung stattfinden können. Es gibt Ungleichheiten im Hinblick auf technische und finanzielle Ressourcen, aber auch auf der Ebene von Skills. Die Automatisierung von Prozessen verstärkt die Möglichkeit, Menschen auszugrenzen. Im nicht-digitalen Alltag gehen wir von der Stärke der Schwachen aus, das heißt, dass Menschen, die marginalisiert werden, oft viele Überlebensstrategien haben. Sie können aus ihrer Not heraus Alternativen entwickeln, um sich in schwierigen Situationen zu bewähren. Im Kontext der Digitalisierung wird ihnen das aber noch schwerer gemacht.
Bei der Lösung geht es nicht um die Frage digital oder analog, sondern um Prozesse – um Grundfragen der Demokratie, Bürgernähe, Partizipation und den Widerstand gegen die Fragmentierung von Systemen. Beim Klimaschutz erleben wir jetzt erste Ansätze einer Lösung.
Wir alle befinden uns in „Blasen“, die durch soziale Medien verstärkt, aber durch unsere Systeme auch ermöglicht und verstärkt werden. Daher gilt es, diese Angebote zu durchbrechen und Menschen nachdrücklich zur Mitbestimmung einzuladen. Bisher waren wir gewohnt, das im realen Raum zu schaffen. Jetzt braucht es Angebote für den Transfer in einen digitalen Raum – Netzwerkstrukturen, die diese Grenzen aufbrechen, sind unumgänglich geworden. Entscheidend ist, Menschen aus unterschiedlichen Hintergründen zusammenzubringen, damit sie sich auf Augenhöhe austauschen können und gemeinsam Lösungen finden.