Es ist ein anschaulicher, wenn auch etwas drastisch formulierter Vergleich, den die Initiatoren des EU-Projekts ITFoM – IT Future of Medicine bemühen, um die Motivation hinter ihren Bemühungen zu beschreiben: „Derzeit besitzt ein behandelnder Arzt weniger Informationen über seinen Patienten als der durchschnittliche Automechaniker über das zu reparierende Fahrzeug, kann dieser doch auf umfassendes aktuelles Datenmaterial zurückgreifen, das automatisch vom Bordcomputer ausgespuckt wird“.
Bleiben wir noch beim Beispiel Auto: Was in der Autoindustrie schon lange Routine ist – die hundertfache Simulation am Computer in der Planungs- und Konzeptphase – soll künftig auch in die Medizin übernommen werden. „Können die Entwickler durch computerunterstützte Simulationen und Modellierungen im Vorfeld der klinischen Testung von Medikamenten konkrete Informationen über den Organismus und die biologischen Vorgänge bekommen, ersparen wir dem Patienten und der Industrie viele riskante Versuche und Zeit“, erläutert Prof. Dr. Kurt Zatloukal vom Institut für Pathologie der Medizinischen Universität Graz in einem ORFInterview.
Die Meduni Graz ist neben der Siemens AG Österreich heimischer Projektpartner in einem europäischen Konsortium, das sich mit dem Projekt „IT Future of Medicine (ITFoM)“ im Rahmen der „Flaggschiff-Initiative“ der EU-Kommission um insgesamt eine Milliarde Euro Forschungsförderung bewirbt. Sechs Großprojekte, darunter auch ITFoM, haben das Finale erreicht, zwei daraus werden am Ende den Zuschlag erhalten.
Zatloukal und sein Team haben im Rahmen von europäischen Forschungsprojekten bereits viel Erfahrung und Know-how im standardisierten Umgang und der Behandlung von Patientenproben sammeln können. So haben sie unter anderem über ganz Europa verteilte Sammlungen von menschlichen biologischen Proben in eine einzige virtuelle Biobank zusammengeführt. Diese Kompetenz qualifiziert die Meduni Graz nun dazu, den gesamten Medizinbereich des Projektes abzuwickeln.
Unter der Leitung des Berliner Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik wollen die europäischen Forscher im ITFoMProjekt eine virtuelle Kopie des Patienten erschaffen, einen virtuellen Crashtest-Dummy. Basis für diesen „Doppelgänger“ des Patienten sollen mathematische Analysen der Daten über die genetische Ausstattung des jeweiligen Individuums, die charakteristischen Stoffwechsel-Eigenschaften und die Gesamtheit der im Organismus vorliegenden Proteine bilden. Alle verfügbaren Patientendaten – von Vitaldaten, Alter, Geschlecht, Blutgruppe, Krankengeschichte über eingenommene Medikamente bis hin zu Tomografie- und Röntgenaufnahmen – werden dafür genutzt.
„Einige wenige Faktoren werden heute schon routinemäßig erhoben, es fehlt jedoch die Integration in ein Gesamtmodell sowie Vergleichbarkeit und Standards bei der Erhebung der Daten“, sagt Zatloukal, der davon überzeugt ist, dass mathematische Modellierungen wesentlich zum besseren Verständnis von Krankheitsentstehung und -verlauf beitragen könnten. Exaktere Vorhersagen wären dadurch ebenso möglich wie effizientere Tests über mögliche Effekte von Therapieansätzen und Medikationen, etwa Mutationen. Außerdem würden sie auch neue Wege in der Aufstellung von Hypothesen und der Planung von Experimenten ermöglichen.
Das Computermodell möchte damit einen wichtigen Beitrag leisten, um das Problem von individuell wirkungslosen Arzneien oder auch die lange Dauer der Medikamentenentwicklung in den Griff zu bekommen, indem es eine auf den einzelnen Patienten abgestimmte Diagnose und Therapie ermöglicht. Darüber hinaus könnte der virtuelle Patient als „Übungsobjekt“ auch in der medizinischen Aus- und klinischen Weiterbildung zukünftig sehr hilfreich sein.