„Je früher und tiefer bzw. genauer diagnostiziert werden kann, desto größer ist der Erfolg auf Heilung. Das spart persönliches Leid und der Volkswirtschaft enorme Kosten“, bringt Ing. Mag. (FH) Christine Stadler-Häbich, stellvertretende Sprecherin der Branchengruppe In-vitro Diagnostik und neu gewähltes Vorstandsmitglied der AUSTROMED für den Bereich Digitalisierung, auf den Punkt. „Das Dilemma ist, dass viele Erkrankungen oft sehr spät erkannt und diagnostiziert werden, sodass kaum mehr Chancen vorhanden sind, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern oder sie länger in der Erwerbsfähigkeit zu halten.“
Auch wenn das heimische Gesundheitswesen zu einem der besten der Welt zählt, so relativiert sich das durch den Umstand, dass zwei Drittel aller Krankheiten nach wie vor nicht oder nur unzureichend behandelbar sind. „Standardtherapien wirken oft nur bei einem Teil der Patienten, bestimmte Krebsbehandlungen können weitaus zielorientierter auf die Erkrankung selbst gerichtet sein und Medikamente sollten weniger nach dem Gießkannenprinzip als vielmehr patientenspezifisch zum Einsatz kommen“, sagt Stadler-Häbich. Die Lösung ist eine personalisierte Medizin, die allerdings ohne digitale Transformation des Gesundheitswesens nicht denkbar ist. „Entscheidend wird sein, aus der ständig wachsenden Menge immer komplexer werdender medizinischer Informationen verwertbare Erkenntnisse zu gewinnen. Dafür gilt es, Kompetenzen in Medizin und Informations- und Kommunikationstechnologien zu verbinden, dafür digitale Infrastruktur zu schaffen bzw. diese auszubauen. So können wir medizinische Daten bündeln und effektiv mit ihnen arbeiten“, betont die Branchengruppen-Vertreterin. Mit Lösungen für Testinterpretationen und Algorithmen ermöglichen Labore ein besseres Verständnis von Erkrankungen. Ärzte werden mit der intelligenten Integration von Labordaten unterstützt, rasch und sicher konsistente Entscheidungen zu treffen. Auch eine Verschiebung bei den Gesundheitsbudgets wird notwendig werden: Von Behandlung und Pflege hin zu Prävention, Diagnostik, digitalen Lösungen und Analysetools, die Algorithmen oder Künstliche Intelligenz (KI) einsetzen.
Personalisierte Medizin beginnt nicht erst beim Patienten, sondern bereits mit der Diagnostik im Labor. Hier könnten KI-gestützte Systeme zur Interpretation von Testergebnissen sowie Algorithmen zu einem besseren Verständnis von Erkrankungen führen. „Bei der Krebstherapie spielt zum Beispiel nicht nur die Krebsart, sondern auch die Genmutation eine Rolle. Daher können wir mithilfe von diagnostischen Tests und Tools besser voraussagen, wie gut ein Patient auf eine Behandlung ansprechen wird“, weiß Stadler-Häbich. Das ist keine Zukunftsmusik: Schon jetzt können Softwarelösungen anhand von Symptomen feststellen, welche Tests gemacht werden sollen und unterstützen die Interpretation der Ergebnisse. Das beschleunigt die Diagnosestellung für den Patienten und entlastet das Gesundheitssystem durch das Wegfallen von Doppelbestimmungen.
Nicht erst seit der Pandemie sind es vor allem die Patienten, die digitale Gesundheitslösungen durchaus befürworten und für einen Schub in der Praxis gesorgt haben. Rezepte via e-card oder Disease-Managementprogramme konnten gerade im letzten Jahr ihre Vorteile ausspielen – ob bei den rund 800.000 Diabetikern oder Patienten mit Herzinsuffizienz. Das Monitoring der DSGVO-konform verarbeitete Daten ohne direkten Kontakt hat sich bewährt und für eine reibungslose Versorgung auch während der Pandemie gesorgt. Für eine konsequente Therapieverlaufskontrolle sind zum Beispiel Apps mit Blutzucker- oder EKG-Monitoring-Funktion ausgestattet. Der Träger erhält so etwa Hinweise auf niedrigen Puls, mögliche Herzrhythmusstörungen oder Vorhofflimmern und kann rasch reagieren, wenn es erforderlich ist. Patentierte Algorithmen und ein neuronales Netzwerk, das auf Künstlicher Intelligenz basiert, können bereits Vorhofflimmern und andere potenziell lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen erkennen und melden. „In weiterer Folge werden Patienten damit auch befähigt, ihren Gesundheitszustand und den Erfolg einer Therapie selbst zu überwachen“, betont die Expertin.
Dass die Halbwertszeit des Wissens sinkt, wussten Experten schon vor dem Internetboom, doch nirgendwo sonst ist das Thema so virulent wie in der Medizin. Wer State-of-the-Art diagnostizieren und therapieren will, muss ständig auf dem Laufenden bleiben und das wird angesichts der Explosion des medizinischen Wissens und der Fachpublikationen im World Wide Web eine kaum erfüllbare Aufgabe. Die Entwicklung hin zur personalisierten Medizin macht diesen Druck noch größer: Vieles muss der Behandler über den Einzelnen wissen und das gleichzeitig mit den Inhalten komplexer Datenbanken adäquat verknüpfen können.
Was könnte hier besser geeignet sein als künstliche Intelligenz, Internet und medizinisch erprobte Datenbanken, denn hier ticken die Uhren schnell. Mithilfe geeigneter Technologie sollen und können dieses menschliche Wissen und der Wissenserwerb unterstützt werden: „Die Digitalisierung im Gesundheitswesen birgt eine Reihe an beispiellosen Möglichkeiten, um eine bessere Versorgung durch effektivere Wege zu liefern: Allein wenn wir uns die Frage stellen „Gibt es einen besseren Weg?” und wir unser Gesundheitsdenken in Technologien übertragen, können wir in eine gemeinsame Zukunft blicken, die der Gesundheit und somit der Menschheit dient. Für die Weiterentwicklung setzen Unternehmen den strategischen Fokus auf integrierte digitale Lösungen für Labore, für Kliniken und für Patienten, mit dem Ziel datenbasierte Entscheidungshilfen anzubieten“, so Stadler-Häbich.
Semantische Suchmaschinen finden in Datenbanken relevante Passagen und Fakten und formulieren daraus Hypothesen, Analysen und Bewertungen und mit jeder Suche lernen solche Systeme dazu. Je mehr Datenquellen analysiert werden, umso treffsicherer dann auch die zur Verfügung gestellten Hypothesen – und dazu ist kein jahreslanges Studium erforderlich, sondern einfach hohe Rechnerleistung. Ob Freitexte in Arztbriefen, medizinischen Artikeln, Befunden und Lehrbüchern – mithilfe von linguistischen Kontextanalysen werden Texte grammatikalisch zerlegt und so wird auf die Bedeutung geschlossen. Dabei geht es nicht um eine „Suchmaschine“, sondern um Software, die relevante Information aufbereitet.
Kognitive Assistenzsysteme können etwa ähnliche Fälle und potenzielle Therapien in wenigen Minuten vergleichen und mit dem Hintergrund der aktuellen Evidenzlage bewerten. Evidenzbasierte und personalisierte State-of-the-Art-Medizin wird so praxisrelevant umgesetzt. Das führt nicht nur zu Kosteneinsparungen, sondern auch zu mehr Qualität und Transparenz in der Behandlung. Rasche Risikoanalysen werden ebenso möglich wie die Verbesserung der Adherence, denn engmaschige Kommunikation mit Patienten ist inkludiert.
Zukünftig werden viel mehr Informationen erfasst, gespeichert und analysiert, um mehr darüber zu erfahren, wie sich Erkrankungen manifestieren. Kombiniert mit einem tieferen Verständnis von molekularen Mechanismen und neuen Diagnosemethoden, wird dies eine massive Veränderung bringen, wie Ärzte Entscheidungen treffen und wie Erkrankungen behandelt werden. Die personalisierte Medizin, die genetische, molekulare und zelluläre Besonderheiten eines Patienten erfasst, ist in der Onkologie aktuell am weitesten fortgeschritten. „Gerade in diesem Bereich ist aufgrund der Schwere der Erkrankung der Bedarf an Präzisionstherapien besonders hoch. Verknüpft man ein individuelles Tumorprofil mit Tausenden anderen Profilen, so ergeben sich daraus Muster, die wertvolle Impulse für die Erforschung und Entwicklung weiterer personalisierter Therapien liefern können“, beschreibt Stadler-Häbich wichtige Entwicklungen.
Jährlich werden allein in Österreich im Rahmen der In-vitro Diagnostik Milliarden an Testergebnissen generiert. Ein Mehrwert dieser Ergebnisse ist nicht nur aus Sicht der Behandler, sondern auch für die Labore gefragt. Auch hier gibt es bereits zukunftsweisende Wege, wie die Expertin weiß: „Neue digitale Produkte und Dienstleistungen liefern medizinischem Personal wertvolle Erkenntnisse, indem sie bisher oftmals unstrukturierte Daten erfassen und nutzen. Unnötige Tests werden vermieden, auffällige Werte werden markiert und lenken den Blick rasch auf das Wesentliche“, erklärt die Branchengruppen-Vertreterin. So unterstützen die Tools bei der Interpretation von Ergebnissen und beim Treffen von Therapieentscheidungen. Voraussetzung dafür ist, dass die anonymisierten Daten an bestimmten Punkten im Gesundheitswesen nicht nur gesammelt, sondern auch zugänglich gemacht werden.
Die Pandemie verdeutlicht, welche Vorteile die Nutzung von anonymisierten Gesundheitsdaten für alle schafft. Wir haben jetzt die Chance, diese Vorteile nachhaltig zu gestalten und breiter zugänglich zu machen. Dabei kann Österreich Vorreiter in Europa sein.