Digitale Werkzeuge müssen Nutzen stiften

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind Medizinprodukte niedriger Risikoklasse, die im Wesentlichen der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten dienen oder bei Behinderung unterstützen. Um DiGAs auch rechtlich zu verankern, wären eine Reihe von Rechtsakten betroffen, die aktuell schon gute Hinweise geben, dass eine Erstattung – zumindest aus juristischer Sicht – kein großer Kraftakt wäre. „Die Definition knüpft zunächst am Medizinproduktebegriff an und die Medical Device Regulation erklärt, dass auch Software ein Medizinprodukt sein kann“, sagt Dr. Gisela Ernst, Rechtsanwaltsanwärterin bei Haslinger und Nagele.

Voraussetzung: Verordnung

Die sozialversicherungsrechtliche Einordnung und damit eine mögliche Erstattung zeigen ebenfalls Potenziale auf: „Ein guter Anknüpfungspunkt sind Versicherungsleistungen im Krankheitsfall, die nicht nur ärztliche Hilfe, sondern auch Heilmittel und sonstige Mittel und auch Heilbehelfe sowie sonstige notwendige Heilbehelfe umfassen“, beschreibt die Rechtsexpertin. Im § 136 ASVG sind „sonstige Mittel“ zur regelmäßigen Beseitigung oder Linderung der Krankheit oder zur Sicherung des Heilungserfolgs beschrieben. „Sie müssen aber ärztlich verordnet werden“, ergänzt Ernst. Ausgeschlossen sind Lifestyle-Produkte, die auch gesunde Menschen jederzeit anschaffen würden. Die OGH-Judikatur (Oberster Gerichtshof) stellt außerdem fest, dass ein gewisses Einwirken auf den Körper erforderlich und das Mittel Hauptbestandteil ist und nicht bloß eine unterstützende Rolle in der ärztlichen Behandlung hat. Zudem ist eine Abgabe über Apotheken festgeschrieben, damit scheiden „sonstige Mittel“ als DiGA aus. Wesentlich besser, so die Expertin, gelingt die Einordnung von DiGA über § 137 ASVG, in dem Heilbehelfe beschrieben werden. Sie werden auch ärztlich verordnet und unterstützen den Heilungserfolg. Teildigitalisierte Produkte, wie etwa digitale Blutdruckmessgeräte, sind nach OGH bereits als erstattungsfähig anerkannt und für die DiGA-Einordnung von Bedeutung: Es wurde auch zugelassen, dass in diesem Fall das Blutdruckmessen von medizinischem Personal in einen anderen Bereich verlagert wurde. „Es braucht wohl nur noch an kleinen Schräubchen gedreht zu werden, damit DiGA auch in Österreich in die Erstattung kommen können. Eine Evidenz im Behandlungsprozess nachzuweisen, wird hier schon schwieriger“, ist Ernst überzeugt.

Patienten-Experience bewerten

Die Studienlage zum Nachweis eines ökonomischen Nutzens ist aktuell noch überschaubar. Für eine niederländische App für Multiple Sklerose (MS) wurde ein Health Technology Assessment (HTA) durchgeführt, in dem die Kosteneffektivität der Anwendung nachgewiesen werden konnte. Das Institut für pharmaökonomische Forschung hat ebenfalls für MS in Österreich ein gesundheitsökonomisches Modell simuliert, wie Betroffene mit und ohne die Anwendung versorgt sind.
„Es geht nicht allein um Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern auch darum, dass chronisch Kranke täglich mit ihrer Krankheit zurechtkommen müssen. Wir müssen daher neben klinischen Parametern auch Verbesserungen der Patienten-Experience in die Bewertung miteinfließen lassen“, fordert Dr. Thomas Czypionka, Leitung Health Economics and Health Policy, Institut für Höhere Studien. Positiv sieht der Experte die EU-HTA Regulation, sie könnte dazu beitragen, dass Skaleneffekte genutzt werden und sich damit die Entwicklungskosten einer App rascher amortisieren.

Mensch-Maschine-Interaktion

Designprinzipien stärker in das Zentrum der Digitalisierungsdiskussion zu rücken, fordert Univ.-Prof. Dr. Friederike Thilo, Leiterin Innovationsfeld Digitale Gesundheit, Angewandte Forschung und Entwicklung Pflege an der Berner Fachhochschule. „Wir dürfen uns nicht zufriedengeben“, appelliert die Pflegewissenschaftlerin und adressiert damit einerseits den Adoptionsgrad der digitalen Werkzeuge in der Gesundheitsversorgung und andererseits den Nutzen, der durch diese im realen Alltag von Gesundheitspersonal generiert wird. Dem Design – und damit meint Thilo die Ausgestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion – muss gerade in der Gesundheitsversorgung besonderes Augenmerk zukommen, denn die Komplexität ist hier weitaus höher als in anderen Branchen: „Der Mensch mit seiner physischen, psychischen und sozialen Dimension, die Patientinnen und Patienten mit der Kognition, Emotion, mit Wertevorstellungen und mit Zielen müssen vor der Dimension der knappen Ressourcen im Gesundheitsmanagement berücksichtigt werden.“ Dazu kommen noch die unterschiedlichen Phasen des Prozesses, die von der Gesundheitsförderung über die Prävention und Kuration bis zur Palliativversorgung reichen. Nicht vergessen werden dürfen der hohe Grad an Interprofessionalität und schließlich das Setting, vom Spitalsnotfall bis zu Homecare.

Komplexität berücksichtigen

Wären digitale Werkzeuge für die medizinische Versorgung mit mehr Fokus auf die Komplexität der Mensch-Maschine-Interaktion entwickelt worden, würden wir heute vermutlich in der Anwendung schon weiter sein. Nach wie vor, so Thilo, wird bei der Entwicklung nie die Frage nach den Auswirkungen digitaler Werkzeuge auf Abläufe, Interventionen oder Dokumentation gestellt: „Oft ist auch nicht klar, welcher Nutzen für wen generiert wird und woran überhaupt dieser Nutzen erkennbar oder messbar wird. Ich vermisse auch die Frage nach Nebenwirkungen oder Risiken, die sich durch den Einsatz der digitalen Werkzeuge etwa im Pflegealltag ergeben könnten.“