Druck reduzieren

Der Markt der Medizinprodukte endet nicht an den Landesgrenzen. Auf EU-Ebene gibt es rechtliche Regeln, die in den Mitgliedstaaten gültig sind und vorschreiben, wie die lebenswichtigen Produkte im heimischen Gesundheitswesen „arbeiten“ dürfen. Dieser europäische Rechtsrahmen für Medizinprodukte ist als EU-Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation, MDR) und IVD-Verordnung (In-vitro Diagnostika, IVDR) im EU-Amtsblatt bekannt gemacht worden. Am 25. Mai 2017 sind beide Verordnungen in Kraft getreten, die Übergangsfrist für die MDR sollte am 25. Mai 2020 enden, für die IVDR am 25. Mai 2022.

 

 

Fokus auf die Pandemie

Die Regeln erfordern umfassende Vorarbeiten der Medizinprodukte-Unternehmen – der Zeitplan ist eng, die Corona-Krise war nicht vorhersehbar und hat das ohnehin schon angespannte Szenario nicht einfacher gemacht. Nach wie vor sind Vorschriften so umfassend und streng, dass Zulassungsstellen ihre Arbeit eingestellt haben, mehr Produkte jedoch den Zulassungsprozess durchlaufen müssen und die Umsetzung der Vorschriften in den Firmen dazu führen könnte, dass neue Produkte gar nicht mehr auf den Markt kommen. Wesentliche Veränderungen betreffen die technische Dokumentation, das Qualitätsmanagement, die klinischen Nachweise und die strengere Vorgehensweise bei der Risikoklassifizierung. Zudem benötigen alle Medizinprodukte mit derzeit gültigem Zertifikat – also einer Zulassung für den Markt – eine Rezertifizierung nach den neuen EU-Verordnungen. Jene Stellen, die für diese Prüfungen zuständig sind, die sogenannten „Benannten Stellen“, müssen sich ebenfalls einem neuen Akkreditierungsverfahren unterziehen. In Summe heißt das: erhöhte Anforderungen an die Zulassungsstelle bei gleichzeitig zunehmender Anzahl an Produkten. Kapazitätsengpässe bei den Behörden, den Betrieben, den Anwendern und letztendlich bei den Patienten sind vorprogrammiert und haben bereits vor Corona ihre Schatten vorausgeworfen. Mit März haben sich die Gesundheitssysteme und Regierungen weltweit auf die Bedürfnisse rund um die Pandemie fokussiert – Krisenmanagement war in allen Branchen und erst recht bei Medizinprodukten gefragt.

Ausnahmezustand erfordert Verschiebung

In Anbetracht der COVID-19-Pandemie und der Schlüsselposition zur Bekämpfung der Ausbreitung, die der Medizinprodukte-Branche zukommt, hat daher der Dachverband der europäischen Medizinprodukte-Branchen, MedTech Europe, zusammen mit den nationalen Verbänden ein Schreiben an die EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Stella Kyriakides, und die Abgeordneten des EU-Parlaments sowie an die Gesundheitsattachés übermittelt, in dem ausdrücklich die Unterbrechung der Implementierung der EU-Verordnungen über Medizinprodukte und In-vitro Diagnostika gefordert wird, und zwar bis sechs Monate nach Ende der Krise. „Dieses Schreiben wurde von AUSTROMED auch an relevante Stakeholder im österreichischen Gesundheitsministerium und der AGES weitergeleitet. Schon kurz darauf hat die Kommission eine Verschiebung des Inkrafttretens der MDR überprüft“, erinnert sich AUSTROMED-Geschäftsführer Mag. Philipp Lindinger. Die Prioritäten hatten sich klar verschoben: Mögliche Engpässe für die Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung des Coronavirus mussten minimiert werden. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet die Prolongierung des für den 25. Mai 2020 geplanten Inkrafttretens der MDR. Es war klar, dass weder Behörden noch Angehörige der Gesundheitsberufe, Benannte Stellen oder die Industrie die dafür notwendigen Schritte setzen konnten. Die Ressourcen für ­klinische Studien, die in vielen Fällen zur (Re-) Zertifizierung von Medizinprodukten notwendig sind, wurden in der Bekämpfung von SARS-CoV-2 gebündelt, Reisebeschränkungen, Schließungen von Standorten und Krisenmanagementmaßnahmen machten die Konzentration auf das Tagesgeschäft unmöglich.„Für die AUSTROMED waren zwei Punkte wichtig. Einerseits die Flexibilität angesichts der unvorhersehbaren Entwicklungen der Corona-Krise und andererseits die Verschiebung des Geltungsbeginns der EU-Verordnung über In-vitro Diagnostika, die weiterhin zwei Jahre nach der MDR Gültigkeit erlangen soll“, erklärt Lindinger. Am 25. März 2020 kündigte die EU-Kommission eine zwölfmonatige Verschiebung des Inkrafttretens der MDR an, am 17. April 2020 hat das Europäische Parlament mit 693 Stimmen die Verschiebung des Geltungsbeginns der EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) um ein Jahr beschlossen. Am 24. April 2020 ist der gesetzgebende Änderungsantrag formal im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden.„Mit der Verschiebung ist allen geholfen – den Unternehmen, die Tag für die Tag um die Versorgungssicherheit in Europa kämpfen, ebenso wie den politischen Entscheidungsträgern, den Behörden und den relevanten Forschungseinrichtungen“, ist Lindinger überzeugt. Kritisch sieht er aber, dass ähnliche Maßnahmen nicht auch für die EU-Verordnung über In-vitro Diagnostika getroffen wurden: „Gerade der IVD-Bereich war durch die COVID-19-Pandemie stark betroffen. Wir werden uns deshalb in den kommenden Monaten weiterhin gemeinsam mit den Schwesterverbänden und dem europäischen Dachverband MedTech Europe intensiv darum bemühen, auch hier eine Verlängerung der Frist zu erwirken“, sagt Lindinger.

Faktencheck: Benannte Stellen
Mit Stand 17. Juni 2020 gibt es 14 Benannte Stellen für Medizinprodukte und vier für In-vitro Diagnostika in Europa. Aktuell bemüht sich in Österreich die QMD Services um die Benennung sowohl nach MDR als auch nach IVDR.
Faktencheck: Leitfaden
MedTech Europa hat kürzlich ein E-Book zu „Clinical Evidence Requirements for CE certification under the In Vitro Diagnostic Regulation in the European Union“ veröffentlicht, das von der Clinical Evidence Work Group der MedTech Europe erarbeitet wurde. Das E-Book ist ein Fragen- und Antworten-Leitfaden zur EU-Verordnung über In-vitro Diagnostika 2017/746 (IVDR) und den damit einhergehenden Anforderungen.

 

 

Foto: Oliver Miller-Aichholz