„ELGA katapultiert uns ins 21. Jahrhundert“, jubelte Bundesminister Alois Stöger anlässlich des offiziellen Startschusses eines der umstrittensten und maßgeblichsten gesundheitspolitischen Projekte der jüngeren Vergangenheit.
Seit 2. Jänner ist das ELGA-Portal auf www.gesundheit.gv.at abrufbar. In den Tagen und Wochen davor hatten die ELGA-Gegner nochmals ihre Kräfte gebündelt und lautstark dazu aufgerufen, von der sogenannten Opt-out-Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich also aus dem System „auszuklinken“. Die Kampagne, seit Beginn der Auseinandersetzungen getragen von der Ärztekammer, scheint nicht ungehört geblieben zu sein. Bereits in den ersten beiden Tagen haben sich mehr als 1.700 Personen entweder telefonisch abgemeldet oder entsprechende Widerspruchsformulare heruntergeladen, da es – laut Informationen des ORF – bei der Online-Abmeldung auf dem ELGA-Portal zu technischen Problemen gekommen sein soll.
Wer seitens der politischen Verantwortlichen also hoffte, spätestens mit der Online-Schaltung des Portals werde die Ärztevertretung ihre „Kampfmaßnahmen“ gegen die elektronische Gesundheitsakte einstellen und sich zukünftig verstärkt in die Diskussionen um deren bestmögliche Umsetzung einbringen, der wurde enttäuscht. Im Gegenteil, die Front der Gegner ist eher noch breiter geworden als löchrig. Zu den finanziellen und administrativen Bedenken der Ärzte gesellen sich auch noch datenschutz- und verfassungsrechtliche hinzu.
Mittels Resolution hatte die Vollversammlung der Ärztekammer für Wien noch vor dem offiziellen ELGA-Start im Dezember Gesundheitsminister Stöger aufgefordert, „dringend für eine ELGA-Verordnung zu sorgen, die allen datenschutz- und verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Vorgaben entspricht“. Der vorliegende Entwurf sei davon weit entfernt, meint die Ärztevertretung und beruft sich dabei auf ein Gutachten des renommierten Verfassungsjuristen Dr. Heinz Mayer, das sie selbst in Auftrag gegeben hatte. Solange sämtliche darin formulierten Problemfelder nicht geklärt sind, empfiehlt die Ärztekammer daher den Bürgern, sich von ELGA abzumelden. Auch der Verband der Österreichischen Hausärzte empfiehlt seinen Patienten diesen Schritt.
Das Mayer-Gutachten listet eine Reihe „gravierender verfassungsrechtlicher Probleme“ auf. Besonders betont werden dabei die Einwände gegenüber der in der Verordnung vorgesehenen Regelung der ELGA-Ombudsstellen. Der Entwurf sieht vor, dass der Gesundheitsminister die ELGA-Ombudsstelle im Wege der Patientenanwälte in den Ländern zu betreiben hat. Dafür, dass der Gesundheitsminister seine Kompetenz durch Inanspruchnahme von Landesorganen ausübt, würden aber die gesetzlichen Grundlagen fehlen, meint Mayer. Ein solches Gesetz wäre jedoch verfassungsrechtlich ohnehin bedenklich, weil die „Zuständigkeitsbereiche zwischen Bund und Ländern strikt getrennt“ seien und daher die Grundlage für eine solche Regelung „nicht erkennbar“ sei.
Die ARGE DATEN sieht zudem massive Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes in den Patientenanwaltschaften. ARGE DATEN-Obmann Dr. Hans G. Zeger spricht wörtlich von „höchst fahrlässigen Sicherheitslösungen“. Stöger hätte aus den Erfahrungen und Erkenntnissen der NSA-Affäre scheinbar keinerlei Konsequenzen gezogen, mutmaßt Zeger und attestiert dem Minister höchste Beratungsresistenz. Würde die Verordnung in der aktuellen Stöger-Version umgesetzt, argumentiert Zeger, hätte die verländerte ELGA-Ombudsstelle damit einen völlig unbeschränkten Zugriff auf alle Gesundheitsdaten aller ELGA-Teilnehmer: „Eine äußerst große Zahl von Personen hätte dann – ohne technische Schutzmaßnahmen – direkten Zugriff auf alle Gesundheitsdaten. Während Ärzte und Spitäler vom Gesundheitsminister geradezu als gefährliche Hackeranstalten hochstilisiert werden, die besonders zu überwachen sind, könnten die ELGA-Ombudsstellen nach Gutdünken schalten und walten, solange es ihrer Tätigkeit dienlich ist.“ So wären die Patienten dem Wohlwollen und der „Rechtschaffenheit“ der Mitarbeiter in den Patientenanwaltschaften völlig ausgeliefert. „Eine Rechtschaffenheit“, so Zeger, „die angesichts mehrerer Dutzend Amtsmissbrauchsfälle im Jahr – zuletzt im Zusammenhang mit den Exekutionsdaten der Justiz – nicht immer gegeben ist.“ Die ARGE DATEN fordert daher die Rücknahme des Entwurfs und die Einrichtung einer bundesweit einheitlichen ELGA-Ombudsstelle, die „strengsten Sicherheitsbestimmungen unterworfen wird“.
Als unverdrossenen „Kampf der Ritter der traurigen Gestalt gegen Windmühlen“ bezeichnete hingegen der Sprecher der Patientenanwälte, Dr. Gerald Bachinger, den anhaltenden Widerstand der Wiener Ärztekammer gegen ELGA in einem Kommentar in der Ärzte Woche: „Sie jagen abgefahrenen Zügen hinterher. Schade um diese verschwendete Energie! Was wäre damit erreichbar, wenn man diese Dynamik zur konstruktiven Mitarbeit an Reformen zur Verbesserung der Qualität und Patientensicherheit durch Vernetzung von relevanten Gesundheitsdaten einsetzen würde?“
Bachinger begrüßt naturgegeben die geplante Übernahme der Aufgaben der ELGA-Ombudsstelle durch die Patientenanwaltschaften und sieht darin eine „logische Weiterentwicklung der bisherigen Aufgabenstruktur der österreichischen Patientenvertretungen“. Letztendlich könne die Effektivität und Durchsetzungskraft einer ELGA-Ombudsstelle nur gewinnen, wenn diese auf bereits gut funktionierenden Strukturen aufbaut, meint Bachinger, die zudem bürgernah und dezentral organisiert seien.
Unbeeindruckt von der massiven Kritik zeigt sich auch die Geschäftsführerin der ELGA GmbH, Dr. Susanne Herbek, demonstrativ zuversichtlich, was die planmäßige Projektabwicklung betrifft. „Die Umsetzung von ELGA findet auf Basis der Regelungen des ELGA-Gesetzes und im Auftrag der ELGA-Systempartner Bund, Sozialversicherung und Bundesländer zügig statt“, lässt Herbek wissen. Ab Herbst 2014 werden die großen Kranken-hausverbünde nach und nach mit der ELGA-Infrastruktur verbunden, ab Sommer 2016 werden dann auch niedergelassene Ärzte und Apotheken in das System integriert. Erst dann, wenn die verordneten und abgegebenen Medikationen in das ELGA-Arzneimittelkonto der Patienten eintragen werden – Stichwort: „E-Medikation“ –, eröffnet sich schrittweise auch für Patienten die Möglichkeit, „ihre Teilnehmerrechte konkret wahrzunehmen, also ihre Gesundheitsdaten selbst einzusehen, den Zugriff von Ärzten zu steuern sowie ein Zugriffsprotokoll abzurufen“, erläutert Herbek.
Hinsichtlich der datenschutz- und verfassungsrechtlichen Bedenken vieler Experten zeigt sich Herbek gelassen. Datenschutz und Datensicherheit würden bei ELGA an oberster Stelle stehen, höchste Sicherheitsstandards seien selbstverständlich. Es sei daher davon auszugehen, so die Argumentation der ELGA-Geschäftsführerin, dass ELGA-Gesetz und -Verordnung letztendlich „vom Gesundheitsministerium verfassungskonform erlassen werden“. Durch die Wahlfreiheit jedes Einzelnen bei der ELGA-Teilnahme sei zudem gewährleistet, dass die persönliche Entscheidung des Bürgers in Bezug auf den Umgang mit seinen Gesundheitsdaten respektiert werde.
Voraussetzung für die Wahlfreiheit sei allerdings, so Herbek abschließend, dass die Patienten völlig autonom und selbstbestimmt entscheiden können, ob und wie sie ELGA nutzen oder ihre Ärzte damit arbeiten lassen wollen: „Eine Einflussnahme der Ärztekammer auf Patienten erscheint nicht geboten.“
Dieser Ansicht schließt sich wohl Alois Stöger vollinhaltlich an. Der alte und neue Gesundheitsminister zeigte sich jedenfalls trotz der anhaltenden Kritik in einer ersten Reaktion über den Start des Portals erfreut. Ein besserer Überblick über die Krankengeschichte werde zu noch mehr Qualität in Diagnose und Behandlung führen, ist Stöger überzeugt. Gleichzeitig „werden die Patientensicherheit und die Transparenz für Patienten erhöht. Erstmals kann man die eigenen Daten ganz einfach einsehen und mittels Protokoll nachvollziehen, welche Ärztin oder welcher Apotheker wann auf die eigenen Daten zugegriffen hat.“ Der Minister empfiehlt daher allen Akteuren im Gesundheitswesen, die elektronische Gesundheitsakte aktiv zu nutzen.