Die wichtigsten Learnings aus den letzten Monaten im Zeichen der Pandemie in Bezug auf die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und die Rolle der Europäischen Union sind für Prof. Dr. Martin Selmayr, Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich, klar: „Die Kompetenzen der EU im Gesundheitsbereich sind limitiert. Gemäß Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ergänzt und unterstützt die EU die Gesundheitspolitik auf nationaler Ebene. Zuständig sind aber in erster Linie die Mitgliedsstaaten.“ Und das hat nach Ansicht des Experten auch Sinn, denn: „Würden wir zentral von Brüssel aus Schulen in Wien schließen oder eine Maskenpflicht verordnen, wäre Empörung über das ‚Diktat der EU‘ vorprogrammiert. Aber: Die Corona-Pandemie hat auch gezeigt, dass in Krisenzeiten eine bessere Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich ist und die Möglichkeit der EU, auf große grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren zu reagieren, erheblich verbessert werden muss.“
Daher hat die Europäische Kommission das Programm EU4Health initiiert – eine Antwort der EU auf COVID-19. Mit einer Mittelausstattung von 9,4 Milliarden Euro ist es hinsichtlich seiner Finanzierung größer als alle anderen EU-Gesundheitsprogramme zuvor und soll Maßnahmen von EU-Ländern, Gesundheitsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen finanzieren. Ab dem Jahr 2021 können Anträge auf Finanzhilfen gestellt werden. Ziel ist es vor allem, die Reaktionsbereitschaft gegenüber großen, grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren zu verbessern, indem Reserven medizinischen Materials für Krisensituationen angelegt werden, eine Personalreserve in den Gesundheitsberufen und in Fachkreisen gebildet wird, die bei EU-weiten Gesundheitskrisen mobilisiert werden kann, und potenzielle Gesundheitsgefahren genauer überwacht werden. Die Gesundheitssysteme sollen gestärkt werden, sodass sie sowohl Epidemien als auch langfristige Herausforderungen besser bewältigen können, wie etwa die Gesundheitsförderung in einer alternden Bevölkerung oder die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Ein Punkt auf der Agenda von EU4Health ist auch, dass Medizinprodukte verfügbar und leistbar bleiben sowie die Förderung von Innovationen und umweltfreundlichere Herstellungsverfahren.
Noch liegt der Fokus aber in der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen, denn die Pandemie ist längst nicht überwunden. „Leider zeigt sich ganz klar, dass die Warnungen vor der zweiten Welle nicht übertrieben waren. Die Krise wird erst vorbei sein, wenn es einen Impfstoff gibt und das Virus überall auf der Welt eingedämmt werden kann. Die Europäische Kommission unterstützt Forscher bei ihren Bemühungen, rasch einen Impfstoff zu finden“, so Selmayr.
Das Schlagwort „Versorgungssicherheit“ stand oft im Mittelpunkt der Diskussion in den letzten Monaten und damit auch die Frage, wie realistisch sich die Länder in Europa überhaupt auf derartige Krisen vorbereiten können. Die Europäische Kommission hat im März einen strategischen Vorrat an medizinischen Ausrüstungen wie Beatmungsgeräten und Schutzmasken initiiert. Der Vorrat selbst wird von einem oder mehreren Mitgliedstaaten angelegt. Die Kommission trägt bis zu 90 % der Kosten. Das EU-Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen wird die Verteilung der Ausrüstung verwalten, um sicherzustellen, dass sie dort zum Einsatz kommt, wo sie am dringendsten benötigt wird.
Im Zuge der Corona-Pandemie ist die Nachfrage nach persönlicher Schutzausrüstung, medizinischen Produkten und Therapeutika weltweit gestiegen. Die Europäische Kommission hat gemeinsame Beschaffungsverfahren von Schutzausrüstung gestartet, um die EU-Mitgliedsstaaten zu unterstützen, das benötigte Material rechtzeitig und in ausreichendem Umfang bereitstellen zu können. „Gemeinsam haben die 27 Mitgliedstaaten schließlich eine weit größere Marktmacht als jedes Land für sich alleine. Zudem wurde eine COVID-19-Clearingstelle für medizinische Geräte eingerichtet. Ziel ist es, Nachfrage und Angebot auf EU-Ebene abzustimmen. Die Kommission steht in engem Kontakt mit den Herstellern von medizinischer Ausrüstung. Darüber hinaus hat sie für andere Betriebe Anreize gesetzt, auf die Fertigung dringend benötigter Waren wie Gesichtsmasken, Handschuhe und Brillen umzusteigen. Auf Initiative der Kommission wurden auch europäische Standards für Medizingeräte und Schutzausrüstung frei verfügbar gemacht“, beschreibt Selmayr die wichtigsten Maßnahmen.
Dass in Krisenzeiten sichergestellt werden muss, dass nicht nur jene Personen gut versorgt werden, die mit dem aktuellen Virus infiziert sind und medizinische Hilfe benötigen, hat sich in allen Ländern gezeigt. Kollateralschäden wurden nach und nach sichtbar, dennoch muss der Fokus auf der Entlastung der Systeme liegen: „Alle Bemühungen, die Corona-Pandemie einzudämmen, haben das Ziel, Druck von den Gesundheitssystemen zu nehmen und Engpässe zu vermeiden, die auch zulasten von Nicht-Corona-Patienten gehen würden. Wichtig ist eine enge Zusammenarbeit zwischen jenen Mitgliedsstaaten, die überlastet sind, und jenen, die Ressourcen haben. Die Europäische Kommission unterstützt die Beförderung von medizinischem Personal und Patienten zwischen den Mitgliedsstaaten. Darüber hinaus wird im Rahmen des EU-Zivilschutzmechanismus die Entsendung von medizinischen Notfallteams und Ausrüstung koordiniert“, beschreibt Selmayr.
Zu Beginn der Krise haben sich viele Mitgliedsstaaten eingeigelt. Es kam zu erheblichen Behinderungen im Personen- und Warenverkehr – mit schwerwiegenden Folgen für die Versorgung mit wichtigen Gütern wie Medizinprodukten und Nahrungsmitteln. „Die Europäische Kommission hat sich mit aller Kraft für die Aufhebung nationaler Ausfuhrbeschränkungen und anderer Hemmnisse für den freien Warenverkehr eingesetzt. Ein Beispiel: Ein mit dringend benötigten Schutzmasken beladener Lkw wurde auf dem Weg von Deutschland nach Österreich an der Grenze festgehalten. Nach Vermittlung der EU-Kommissionsvertretungen in Wien und Berlin konnte er schließlich seine Reise fortsetzen. Die Kommission hat auch Maßnahmen ergriffen, um dem Fleckerlteppich bei den Reisebeschränkungen beizukommen und die Koordinierung zwischen den Mitgliedsstaaten zu verbessern“, gibt der EU-Experte einen Einblick in wichtige Maßnahmen.
„Gesundheitsbedrohungen machen nicht an nationalen Grenzen halt. Daher ist es zentral, Schritte auf EU-Ebene zu setzen, um künftig effektiver auf grenzüberschreitende Gefahren reagieren zu können. Erstens müssen wir das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten ECDC und die Europäische Arzneimittel-Agentur stärken. In der Vergangenheit haben sich die Anforderungen an das ECDC keineswegs in der Mittelausstattung widergespiegelt.
Zweitens werden wir – so wie von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union angekündigt – eine europäische Barda einrichten, also eine Agentur für fortgeschrittene biomedizinische Forschung und Entwicklung.
Drittens brauchen wir strategische Vorräte an Arzneimitteln und medizinischen Geräten, um die Abhängigkeit von Lieferketten zu reduzieren.
Viertens müssen wir den Zugang zu den Gesundheitssystemen verbessern und Ungleichheiten angehen – Gesundheitsversorgung darf kein Luxusgut sein. Und last, but not least müssen wir die Belastbarkeit unserer Gesundheitssysteme durch kluge Investitionen steigern: In der kommenden Finanzperiode 2021–2027 werden die Mittel für EU-Gesundheitspolitik vervielfacht.“