Der Markt der Medizinprodukte endet nicht an den Landesgrenzen. Auf EU-Ebene gibt es rechtliche Regeln, die in den Mitgliedstaaten gültig sind und vorschreiben, wie die lebenswichtigen Produkte im heimischen Gesundheitswesen „arbeiten“ dürfen. Die Medizinprodukte-Verordnung (MDR) und die In-vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDR) bilden den Rechtsrahmen für Unternehmen, die Medizinprodukte herstellen und vertreiben. Im Gegensatz zu bisherigem Recht müssen Betriebe künftig eine Reihe sehr strenger Anforderungen erfüllen. Das ist wichtig für den sicheren Einsatz der Produkte, gleichzeitig sind diese Anforderungen so hoch, dass viele Unternehmen fürchten, dass ihre Produkte gar nicht mehr auf dem Markt bestehen können. So gibt es zum Beispiel kürzere Meldefristen bei der Marktüberwachung, Produkte werden in höhere Risikoklassen eingestuft und benötigen daher mehr klinische Daten und viele zusätzliche Berichte und Pläne sind erforderlich. All das benötigt im Arbeitsalltag viel mehr Zeit und zusätzliches Personal. Zudem können diese vielen Unterlagen gar nicht mehr in Österreich eingereicht werden, denn die dafür zuständige Stelle – die sogenannte Benannte Stelle – gibt es aktuell in Österreich nicht. Denn auch hier sind die Anforderungen so stark gestiegen, dass nicht nur hierzulande, sondern auch in vielen anderen Ländern Europas diese Stellen einfach reduziert wurden. Die Folge: Um Produkte künftig auf den Markt zu bekommen, müssen Unternehmen viel Geld in die Hand nehmen. Neue Produkte werden es schwer haben, hier überhaupt zu bestehen.
Dr. Alexander Biach Standortanwalt der Wirtschaftskammer Wien „Gesundheit und Medizin sind die Wachstumsbranchen der kommenden Jahre. Jetzt gilt es, die Infrastruktur auszubauen, jetzt ist es wichtig, die internationale Zertifizierungsstelle für Medizinprodukte nach Wien zu bringen.“
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Mag. Karoline Edtstadler Bundesministerin für EU und Verfassung „Europa befindet sich durch das Coronavirus im Ausnahmezustand. In solchen Krisenzeiten ist es wichtig, dass die Europäische Union schnell reagiert und Entscheidungen trifft. Dazu gehört es auch, sämtliche Prozesse und Verfahren zu durchleuchten und so anzupassen, dass die Bewältigung der Corona-Krise rasch gelingt. Das derzeit vordringlichste Thema ist, die notwendige Versorgung mit medizinischen Produkten sicherzustellen. Ich begrüße daher die Initiative der EU-Kommission, die für dieses Jahr geplante Änderung bei der Zertifizierung der Medizinprodukte um ein Jahr zu verschieben. Die Europäische Union muss mit allen Mitteln dafür kämpfen, die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten zu entlasten. Denn die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger muss immer Vorrang vor der Bürokratie haben.“
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Die umfassenden Vorarbeiten der Medizinprodukte-Unternehmen waren bisher schon in ein enges Zeitkorsett gepresst. Kapazitätsengpässe bei den Behörden, den Betrieben, den Anwendern und letztendlich bei den Patienten sind vorprogrammiert und haben bereits vor Corona ihre Schatten vorausgeworfen. Mit März haben sich die Gesundheitssysteme und Regierungen weltweit auf die Bedürfnisse rund um die Pandemie fokussiert – Krisenmanagement war in allen Branchen und erst recht bei Medizinprodukten gefragt. Das Moratorium für die MDR ist daher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die AUSTROMED, die europäischen Schwesterverbände und die Dachorganisation MedTech Europa fordern daher auch für die IVDR eine Verschiebung. Denn gerade die IVD-Branche ist seit dem Ausbruch der Corona-Krise extrem gefordert.
Oliver Bisazza Director Regulations & Industrial Policy, MedTech Europe „Die Verschiebung um ein Jahr ist sehr spät in der Umsetzungsphase gekommen. Ziel war es nicht, der Branche mehr Zeit zu geben, sondern den Fokus auf die Bekämpfung der Pandemie zu legen. Reisebeschränkungen oder die Schließungen von Standorten machten Zertifizierungsverfahren praktisch unmöglich. Zeit für eine Pause ist jetzt keineswegs, die Medizinprodukte-Branche muss dieses weitere Jahr auf jeden Fall nutzen, denn es gibt deutliche Zeichen vonseiten der Kommission, dass es zu keiner weiteren Fristverlängerung mehr kommen wird. Die Unternehmen müssen mehr denn je auf Hochtouren an der Umsetzung arbeiten. Auch die Behörden müssen das Extrajahr jetzt schleunigst nutzen, denn auch ihre Arbeit ist bei Weitem noch nicht getan. Es fehlt noch eine Reihe von Leitlinien oder die Zulassung weiterer Benannter Stellen.“
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Die Fristverlängerung gilt ausdrücklich nur für den Zeitpunkt der Umsetzung der MDR. Alle anderen Fristen sind unverändert und auch für die IVDR bleibt weiterhin 2022 das Jahr der Umsetzung. Das ist insofern wichtig, als dass sich der Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten der beiden Regelungen jetzt von zwei Jahren auf ein Jahr reduziert hat. Das kann für viele Betriebe, die von beiden Verordnungen betroffen sind, eine zusätzliche Herausforderung bedeuten, vor allem, weil viele Studien jetzt auch ausgesetzt werden mussten. Bei den letzten Gesprächen der Kommission wurde ausschließlich über die MDR verhandelt und die IVDR war nicht einmal auf der Agenda. Doch die Zeit läuft …Zudem hat die AUSTROMED die öffentliche Hand schon mehrfach und vor dem Krisenjahr 2020 aufgefordert, sich verstärkt für die Einrichtung von ausreichend Benannten Stellen in Österreich zu engagieren. Es geht darum, die Rahmenbedingungen für Medizinprodukte-Unternehmen rasch zu verbessern und eine Lösung im Sinne der Versorgungssicherheit für die Patienten in Österreich und ganz Europa zu finden. Nicht zuletzt hemmt ein Stau bei den Zulassungen und die fehlende Bereitschaft, Innovationen in die Erstattung zu bringen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der gesamten Branche. Die lokale Expertise bei Behörden und Benannten Stellen dient der strategischen Stärkung des Standortes Österreich.