In manchen Fällen gelte auch in der Medizin durchaus das Motto „weniger ist mehr“, sagt Prof. Dr. Karl-Heinz Rahn, Präsident der Deutschen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Daher hätten zahlreiche internationale Fachgesellschaften in den vergangenen Jahren auch sogenannte „Don’t do“-Empfehlungen erarbeitet, die etwa in den USA unter dem Begriff „Choosing Wisely“ bekannt geworden sind. „Die Choosing-Wisely-Intiativen sind angetreten, um Ärzten und Patienten den nötigen Mut zu geben, auch einmal etwas nicht zu tun“, erläutert Rahn. „Wir sollten aber nicht allein identifizieren, welche medizinischen Leistungen kritischer zu hinterfragen sind, sondern auch, welche zu selten in Anspruch genommen und stärker unterstützt werden sollten.“ Das Problem beginne schon bei der geringen Wertschätzung für Gespräche zwischen Arzt und Patient. Zudem sei die Betrachtung aus der Perspektive einzelner Fachgebiete zu kurz gesprungen, da für eine gute Versorgung die gemeinsame Abstimmung verschiedener Fachgebiete unabdingbar sei. Das sei auch der Ausgangspunkt für die AWMF-Initiative „Gemeinsam Klug Entscheiden“ (GKE) gewesen.
Derzeit arbeitet eine Ad-hoc-GKE-Kommission in einem ersten Schritt daran, eine Methodik für die Erstellung von GKE-Empfehlungen zu erarbeiten und diese anhand erster Praxisbeispiele zu überprüfen und zu konkretisieren. Folgende Prinzipien sollen diesem Prozess zugrunde liegen:
Laut Prof. Ina Kopp, Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der AWMF, stellt die Initiative auch eine Antwort auf die „zunehmende marktwirtschaftliche Orientierung des Gesundheitssystems“ dar. Demnach sei es eine wesentliche Aufgabe, auch Empfehlungen zu implementieren, die „wirtschaftlich unpopulär und schwer zu messen, aber wissenschaftlich begründet sind“. Als Beispiel nennt Kopp ebenfalls die bereits erwähnte „sprechende Medizin“. Dazu müsse in jedem Fall das Vertrauen von Kostenträgern, Selbstverwaltung und Politik gewonnen werden. „Umso wichtiger ist die kluge Auswahl der Inhalte, die wir in die Qualitätsoffensive geben und der bedachte Einsatz von Öffentlichkeitsarbeit“, erläutert Kopp.
Ziel der Qualitätsoffensive ist es also laut Eigendefinition, „wissenschaftlich begründete, fachübergreifend und mit Patientenvertretern abgestimmte Empfehlungen zu wichtigen Gesundheitsfragen stärker in die öffentliche Diskussion zu bringen“. Was aber sind überhaupt „wichtige Fragen im Versorgungsalltag“? Ein wesentliches Beurteilungskriterium dafür ist der Gesundheits- oder Versorgungsaspekt, wofür ohnehin schon Kriterien existieren, etwa Krankheitslast, Verbesserungspotenzial der Versorgungsqualität, Versorgungsunterschiede – auch ethische und soziale Aspekte oder interdisziplinärer bzw. interprofessioneller Koordinationsbedarf.
Die konkreten Kriterien für die Auswahl von Empfehlungen für die Offensive „Gemeinsam Klug Entscheiden“ werden von einer GKE-ad-hoc-Kommission erarbeitet, erklärt Kopp. Dazu werden unter anderem gehören:
Anschließend wird die Kommission die festgelegten Kriterien an Pilotprojekten auf ihre Praxisrelevanz testen. Als erste Piloten wurden dafür die Themen unspezifischer Kreuzschmerz, chronische koronare Herzkrankheit und Husten ausgewählt.
„Als Idee dahinter steht, dass es in Deutschland bereits zahlreiche ausgezeichnete evidenzbasierte Leitlinien gibt, an denen die verschiedenen Fachgesellschaften gemeinsam fachübergreifend, mit anderen Berufsgruppen und mit betroffenen Patienten arbeiten“, erläutert Prof. Dr. Rolf Kreienberg, Vorsitzender der Kommission Leitlinien der AWMF. Damit sei die Grundlage gesetzt, gemeinsam wichtige Versorgungsprobleme zu identifizieren und Empfehlungen zu ihrer Behebung zu erarbeiten. „Es geht nicht darum, etwas neu zu erfinden, sondern zu erkennen, wo Leitlinien nicht ausreichend umgesetzt werden oder fehlen.“
Im Gespräch mit Frau Prof. Kopp
In Deutschland sind wir hierfür in einer strukturell günstigen Ausgangslage, da hier die AWMF bereits seit 20 Jahren die Entwicklung von Leitlinien ihrer derzeit 168 Mitgliedsgesellschaften koordiniert und unterstützt. Von den ca. 700 Leitlinien im Register der AWMF sind über 60 Prozent bereits interdisziplinär entwickelt. In mehr als 300 Leitlinienprojekten haben die interdisziplinären Gremien strukturierte Verfahren zur Konsensbildung eingesetzt mit Moderation durch AWMF-Leitlinienberater. Oft sind an diesen Leitlinien auch Vertreter anderer Berufsgruppen und der Patienten beteiligt. Es gibt also einen klaren Willen und viel Erfahrung zur Konsensbildung in strukturierter Form, die weit über einen kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgeht, und einen Dachverband, der das Vertrauen seiner Mitglieder genießt.
Sie unterscheiden sich durch den Umstand, dass besonders prioritäre Empfehlungen für die GKE-Offensive ausgewählt werden, von denen wir wissen, dass Verbesserungspotenzial trotz vorhandener Leitlinien sowie weiterer Informationsbedarf bestehen und weitere Kriterien erfüllt sein müssen.
Die Ad-hoc-Kommission wird das methodische Werkzeug erarbeiten und die AWMF Unterstützung anbieten, damit die Mitgliedsgesellschaften der AWMF GKE-Empfehlungen entwickeln können. Konkret werden das dann Gremien sein, die für das Thema repräsentativ zusammengesetzt werden – in Analogie zu Leitliniengruppen: Mandatsträger der Fachgesellschaften, Patienten, gegebenenfalls auch andere Gesundheitsberufe. Wo GKE-Empfehlungen aus Leitlinien abgeleitet werden, werden diese auch die GKE-Empfehlungen gemeinsam konsentieren.
Sie werden als gleichberechtigte Partner in den Entwicklungsprozess einbezogen.
Eine Evaluierung der Umsetzung der GKE-Empfehlungen der Auswirkungen auf die Versorgungsqualität ist wichtig. Dies werden die Fachgesellschaften aber nicht allein leisten können. Bei der Planung der Evaluation muss man an vorhandene Strukturen der Qualitätssicherung und der Versorgungsforschung denken und strategische Partnerschaften suchen.
AWMF und Fachgesellschaften arbeiten derzeit rein aus eigenen „Bordmitteln“ an GKE. Redaktionelle Unabhängigkeit ist hier wesentlich.
Österreichische Fachgesellschaften arbeiten an vielen Leitlinienprojekten in Deutschland mit, teilweise sogar federführend. Auch arbeiten einige österreichische HTA-Institute für unsere Leitliniengruppen. Es bestehen also Grundlagen für themenspezifische Kooperationen. Allerdings sollte eine Qualitätsoffensive, das hören wir auch aus internationalen Erfahrungen, eine anerkannte, einigende Dachorganisation haben.