Das Gesundheitswesen ist gleichzeitig Daseinsvorsorge und Datenmaschine. Digital unterstützte Gesundheitsversorgung benötigt Daten – und produziert sie, und zwar in steigendem Ausmaß und größer werdender Diversität. Intelligente Medizinprodukte erfassen eine Vielzahl an Gesundheitsdaten. Die Bildgebung in der Diagnostik und die Sequenzierung von DNA, RNA oder Proteinen erzeugen große, bislang nicht digital vorliegende Datenmengen. Gleichzeitig – wenn auch langsamer – schreitet die Digitalisierung der Versorgungsprozesse fort und liefert zusätzliche Real World Data, etwa zu Patient Reported Outcomes, Medikation oder medizinischer Dokumentation. Die digitalen Möglichkeiten machen unser Gesundheitswesen datenreicher.
Für unsere Gesundheitsversorgung sind qualitativ hochwertige und rasch verfügbare Daten zentral. Bloß welche? Dank ELGA liegen Entlassungsbefunde, Medikationsdaten und Impfinformationen im Behandlungssetting vor. Nicht aber Laborbefunde, die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchung oder radiologisches Bildmaterial – noch nicht. Während die kontinuierliche Weiterentwicklung der ELGA-Infrastruktur mit neuen Anwendungen oder der Anbindung zusätzlicher Gesundheitsdiensteanbieter eine der wesentlichsten Aufgaben der nächsten Jahre darstellen wird, stellt sich eine weitere Frage: Was können und sollen unsere Dateninfrastrukturen über die Versorgung hinaus leisten?
Die Steuerung des Gesundheitswesens sowie die Gestaltung und Evaluierung von Public Health-Interventionen sind auf Daten angewiesen – nicht auf Daten von Einzelpersonen in einem Behandlungszusammenhang, sondern auf Daten über Populationen, Risikogruppen, Krankheitsverläufe. Dasselbe gilt für die Forschung zu neuen Versorgungsformen, zur Gesundheitsförderung, Prävention und zu therapeutischen Interventionen. Diese Forschung findet an vielen Orten statt und kann großen Nutzen stiften. Der Zugang zu hochwertigen, verknüpften Gesundheitsdaten für die Steuerung und Forschung ist jedoch eingeschränkt.
Gesundheitsdaten sind im Sinne der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) besonders schützenswerte personenbezogene Daten. Und das ist gut so. Jedoch bietet die DSGVO etwa für Zwecke der Forschung Möglichkeiten für EU-Mitgliedstaaten, die Weiterverwendung (Sekundärnutzung) von Gesundheitsdaten in pseudonymisierter Form zu ermöglichen. Diese Möglichkeiten schöpfen einige nordische Mitgliedstaaten bereits in umfassender Weise aus. Die österreichischen Rechtsgrundlagen machen derzeit von den DSGVO-Öffnungsklauseln nur in Ausnahmefällen Gebrauch – etwa im Forschungsorganisationsgesetz.
So kommen Forschung und Systemsteuerung weiterhin nur über Umwege an die nötigen Daten: durch Neuerhebung anderswo bereits verfügbarer Daten oder Anpassung gesetzlicher Rechtsgrundlagen für Einzeldatenbestände – rund um Datensilos gespanntes Flickwerk statt Gesamtentwurf. In der mit den Finanzausgleichsverhandlungen einhergehenden Gesundheitsreform gelang zu einem gewissen Grad die Vorbereitung neuer Kooperationsformen und Dateninfrastrukturen. Diese sollen den wesentlichen Systempartnern, also Bund, Bundesländern und Sozialversicherung, erlauben, pseudonymisierte Daten für legitime Nutzungszwecke auszutauschen. Was (noch) fehlt, ist die Definition einer klaren Schnittstelle in Richtung weiterer Datenhalter und Datennutzer – eben vor allem der Forschung.
An diesem Punkt hat nun der Europäische Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS) seinen Auftritt: Er ist mittlerweile beschlossene Sache und wird, letzte formelle Schritte vorausgesetzt, 2025 in Kraft treten. Für die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten gilt eine vierjährige Übergangsregelung; hier ist der EHDS also 2029 in vollem Umfang anzuwenden. Selbstverständlich orientieren sich bereits aktuelle Aktivitäten etwa rund um die e-Health-Strategie am EHDS.
Was bedeutet der EHDS für die österreichischen Dateninfrastrukturen? Neben dem Ausbau der Infrastruktur für die Primärnutzung der Daten, etwa in Richtung grenzüberschreitend verfügbarer Patientenkurzakte, muss eine breite Palette an Gesundheitsdaten für legitime Sekundärnutzungszwecke verfügbar gemacht werden: Dazu gehören in der ELGA-Infrastruktur verfügbare Daten ebenso wie Registerdaten oder Daten aus klinischen Studien, und zwar nicht nur als getrennte Datenbestände, sondern je nach Fragestellung auch in verknüpfter Form. Der Albtraum des Datenschutzes? Nicht unbedingt. Die EHDS-Bestimmungen erfordern neue und vertrauenswürdige Prozesse, die missbräuchliche Verwendung unterbinden und den gesellschaftlichen Nutzen der neuen Möglichkeiten im Fokus behalten.
So werden im EHDS neu einzurichtende Gesundheitsdaten-Zugangsstellen Anträge zur Datennutzung prüfen und entscheiden, ob das Nutzungsinteresse legitim ist. Ist dies der Fall, fordert die Zugangsstelle die Daten von den Datenhaltern in pseudonymisierter Form an, verknüpft sie projektspezifisch und stellt sie den akkreditierten Datennutzern für einen beschränkten Zeitraum zur Verfügung. Dies erfolgt in der Regel in anonymisierter Form, in Ausnahmefällen mit projektspezifischen Pseudonymen, stets jedoch in sicheren Verarbeitungsumgebungen, die missbräuchliche Verwendung unterbinden. Es werden also keine Datenbestände vervielfältigt. Das Prinzip der Datenminimierung gilt weiterhin. Der Verordnungstext räumt Bürgern die Möglichkeit eines Widerspruchs (Opt-out) ein. So können Patienten für sich entscheiden, ob mit ihren Gesundheitsdaten geforscht werden darf.
Grundsätzlich wird die Umsetzung des EHDS in Österreich nicht nur Gesetzesanpassungen erfordern, sondern auch technische und organisatorische Innovationen rund um bestehende Dateninfrastrukturen nach sich ziehen. Sekundärnutzung muss in allen Datenbeständen mitgedacht, Metadaten und Informationen über Datenqualität müssen zur Verfügung gestellt werden. Datennutzer werden zu Datenhaltern und umgekehrt. Der gesellschaftliche Mehrwert der Sekundärnutzung muss evaluiert und transparent gemacht werden. Das Potenzial ist beträchtlich, der Aufwand ebenso. Damit unsere Umwege nicht zu Abwegen werden, muss sich Österreich jetzt auf den Weg zum EHDS machen.