Herausforderungen in der Pflege

Die Krankenpflege ist derzeit in einer Umbruchsituation, manche sehen es gar als „Krise“, denn Themen wie hohe Belastungen, Personalmangel oder stagnierende Berufsreformversuche bei gleichzeitigen Pflegeskandalen machen das ohnehin angekratzte Image der Berufsgruppe nicht besser. Die Themen sind in der Medizin nicht neu und wurden in den letzten Jahren vor allem von den Ärzten für sich beansprucht. Jetzt werden Diskussionen auch vonseiten der Pflege lauter und bildeten kürzlich den Ausgangspunkt für einen zukunftsorientierten Dialog des Karl Landsteiner Instituts für Human Factors & Human Resources im Gesundheitswesen. Im Mittelpunkt stand die Situation der Pflege zwischen Professionalisierung, Pflegenotstand, Arbeitsbelastung, Wertschätzung und Reformwillen.

Mehr Wertschätzung gefragt

Mehr Kontrollstrukturen anstelle funktionierender Hintergrundstrukturen sind keine Lösung für die anstehenden Probleme, sind sich die Experten jedenfalls einig. „Wir stehen vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen, zu deren Bewältigung die Pflege lediglich dann einen Beitrag leisten kann, wenn dazu adäquate Strukturen vorgesehen werden“, stellt zum Beispiel Markus Mattersberger, Präsident von Lebenswelt Heim, dem Bundesverband der Alten- und Pflegeheime Österreichs, fest. Er ist überzeugt, dass es ohne multiprofessionelle Zusammenarbeit und gut ausgebildetes Pflegepersonal nicht gehen wird. Derzeit wird nach Einschätzung der Öffentlichkeit auf Skandale fokussiert, die zwar ein Bild zeigen, aber das Große und Ganze nicht abbilden. „Der Attraktivierung der Pflegeberufe wird künftig eine besondere Bedeutung zukommen und dies sollte seitens der Politik unterstützt werden. Allerdings ist gegenwärtig davon wenig zu spüren, denn die zur Schau gestellte Geringschätzung der Arbeitsleistung der Pflege bewirkt das Gegenteil. Anstelle von guten Strukturen bauen wir Kontrollstrukturen auf. Dieser Akt der Bürokratisierung zeugt aber nur von Führungsschwäche. Der Umstand, dass die Best-Practice-Länder Europas eine weitaus höhere Dichte an Pflege- und Betreuungsplätzen aufweisen, deutlich höhere Ausgaben für Leistungen für die älteren Mitmenschen in Kauf nehmen und letztlich auch ein deutlich besseres Image der Pflegeeinrichtungen in der Gesellschaft vorherrscht, sollte uns zu denken geben.“

Arbeitsverdichtung führt zu ­Beschwerden

Dass es an der Zeit ist, dass sich die größte Gruppe im Gesundheitswesen ihrer Stellung bewusst wird, fordert auch Dr. Sigrid Pilz, Wiener Patienten- und Pflegeanwältin: „Ich bin immer wieder mit Beschwerden konfrontiert, die deutlich zeigen, dass es im Bereich der Pflege an Ressourcen mangelt. Das Pflegepersonal berichtet von extremer Arbeitsverdichtung in den letzten Jahren, den zunehmenden psychischen und physischen Belastungen sowie schlechter werdenden Arbeitsbedingungen. Trotz der hochqualifizierten Ausbildung und verantwortungsvollen Tätigkeiten nimmt das Hierarchiegefälle, das Pflegekräfte im Arbeitsalltag zu ‚ärztlichen Hilfskräften‘ degradiert, zu.“ Dass diese Rahmenbedingungen die Ausbildung in einem Pflegeberuf für viele junge Menschen unattraktiv macht, liegt auf der Hand. Gleichzeitig steigt der Bedarf an gut ausgebildeten Pflegepersonen weiter an.
Ursula Frohner, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV), zeigt anhand von Zahlen den enormen Umfang der zu erbringenden Pflegeleistungen auf: „Laut Statistik Austria leiden in Österreich 2,6 Millionen Menschen an mindestens einer chronischen Erkrankung und im Jahr 2040 werden 27,2 Prozent der österreichischen Bevölkerung über 65 Jahre alt sein.“ Mit einem Anteil von rund 65 Prozent sind Gesundheits- und Krankenpflegepersonen zwar die größte Gruppe der gesetzlich geregelten Gesundheitsberufe, ihre bedeutenden und zentralen Aufgaben im Gesundheitssystem werden jedoch noch nicht ausreichend unter dem Aspekt der demografischen Entwicklung betrachtet. Um den gesellschaftlichen Veränderungen und den immer rascheren Entwicklungen des medizinischen Bereiches mit pflegerischem Fachwissen begegnen zu können, bemüht sich der ÖGKV um eine Reihe von Qualitätsverbesserungen. Konkret sind es Reformen rund um die Berufsausbildung sowie der verpflichtende Eintrag aller Gesundheits- und Krankenpflegepersonen in das Gesundheitsberuferegister. „Kompetente Gesundheits- und Krankenpflegepersonen werden in den kommenden Jahren zunehmend komplexere Pflegesituationen zu bewältigen haben und vermehrt medizinische Routinetätigkeiten übernehmen müssen. Gleichzeitig werden nach aktuellen Berechnungen im Jahr 2030 etwa 30.000 ausgebildete Pflegepersonen fehlen. Es ist also hoch an der Zeit, nachhaltige Versorgungskonzepte sowie Rahmenbedingungen, die mit anderen Gesundheitsberufen auf gleicher Stufe stehen und dem erforderlichen Handlungsspektrum der Gesundheits- und Krankenpflege entsprechen, zu implementieren“, fordert Frohner nachdrücklich.

Daten und Fakten fehlen

„Europäische Gesundheitsstatistiken zeigen, dass pflegende Mitarbeiter in der stationären Altenpflege einen bedeutsam schlechteren psychophysischen Gesundheitszustand aufweisen als andere Berufsgruppen“, stellt Mag. Sigrid Schmiedl, Arbeits- und Organisationspsychologin von APSC Business Solutions, fest und ergänzt ihre Erfahrung aus zahlreichen Einzelgesprächen: „Eine Zunahme bei der Arbeitsmenge, Zeitdruck, Lärm, Konflikte, schlechtes Teamklima bei geringer Anerkennung und Wertschätzung kennzeichnen den Alltag.“ Doch: Evidenz im Sinne empirischer Daten zum aktuellen Wissensstand im Bereich beruflicher Belastungen von Pflegekräften in Österreich ist kaum vorhanden. Flächendeckende Daten auf Bundesebene fehlen als notwendige Grundlage für passgenaue Interventionen im Bereich der Organisationsentwicklung. Mehr psychosoziale Unterstützungsprogramme wie fix implementierte Arbeitspsychologen, regelmäßige Teamentwicklungen, Sensibilisierung für psychosoziale Themen, eine Bereitschaft für Supervision und Beratung und die laufende Weiterbildung der Mitarbeiter, aber auch die effiziente Orga­nisationsentwicklung wären nach Einschätzung von Schmiedl jedoch dringend notwendig.
Dr. Heidi Pacher, Geschäftsbereichsleiterin der Volksanwaltschaft, hält fest: „Die Einwohnerzahl Österreichs wächst, gleichzeitig altert die Bevölkerung. In Pflegeinstitutionen kommt es dementsprechend vermehrt zur Aufnahme von multimorbiden Personen, Menschen mit Demenz oder anderen psychischen Erkrankungen und Behinderungen. Dies stellt hohe Anforderungen sowohl an die Präsenz als auch fachliche und soziale Kompetenzen von Pflege- und Betreuungspersonal. Die von der Politik gestalteten Rahmenbedingungen tragen dem nicht Rechnung!“ Das Missverhältnis zwischen steigenden Herausforderungen und den tatsächlichen personellen Ressourcen in Einrichtungen wird von allen Kommissionen der Volksanwaltschaft wahrgenommen. „Wir appellieren an die gesamtstaatliche Verantwortung von Bund und Ländern und fordern bundeseinheitliche Mindeststandards und eine arbeits- und pflegewissenschaftliche Bewertung aktueller qualitativer und quantitativer Anforderungen in der stationären Langzeitpflege.“
Die Rolle der Volksanwaltschaft in der Pflegediskussion leitet sich aus der Aufgabe zur „präventiven Menschenrechtskontrolle“ ab. Die Volksanwaltschaft ist seit dem 1. Juli 2012 für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte in Österreich zuständig. Gemeinsam mit sechs regionalen Kommissionen werden Einrichtungen kontrolliert, in denen es zum Entzug oder zur Einschränkung der persönlichen Freiheit kommt oder kommen kann, so zum Beispiel auch in Pflegeheimen oder Einrichtungen und Programme für Menschen mit Behinderungen. Im Kern geht es darum, Risikofaktoren für Menschenrechtsverletzungen frühzeitig zu erkennen und abzustellen. Eine laufend aktualisierte Übersicht über festgestellte Missstände in der Bundesverwaltung bzw. der Landes- und Gemeindeverwaltung sowie über die diesbezüglichen Veranlassungen der Volksanwaltschaft sind online abrufbar: http://volksanwaltschaft.gv.at/berichte-und-pruefergebnisse/aktuelle-missstaende

 

Quelle: Gesundheitspolitisches Sonderforum „Pflege im Fokus“, Karl Landsteiner Institut für Human Factors & Human Resources im Gesundheitswesen, Juni 2017, Wien