Menschen werden im Fall von humanitären Krisen, Kriegen und Konflikten unterstützt, aber auch dort, wo sie aus anderen Gründen einen unzureichenden oder keinen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung haben. Marcus Bachmann, Advocacy & Humanitarian Affairs Representative von Ärzte ohne Grenzen in Österreich, erzählt, warum der Markt für Medizinprodukte und Fragen der Versorgungssicherheit im globalen Süden nicht mit europäischen Verhältnissen vergleichbar sind.
Wie definieren Sie Versorgungssicherheit mit Medizinprodukten?
Medizinprodukte sind ein integraler Bestandteil für das Patientenmanagement und oft sind Diagnose und Therapie ohne sie gar nicht möglich. Unser Anspruch ist es, dass alle Patienten basierend auf der Dringlichkeit ihrer Bedürfnisse gut versorgt sind, das schließt auch Medizinprodukte mit ein. Jedes Einsatzgebiet hat krisenhafte Rahmenbedingungen – das ist normal für uns und auch, dass die Versorgungslage nicht überall gleich ist. Jede Krise ist meist auch mit einer Gesundheitskrise verknüpft oder löst diese unmittelbar aus. Das hängt unmittelbar auch mit dem Gesundheitssystem zusammen, ob Kapazitäten vorhanden sind, die betroffenen Menschen versorgen zu können. Allein in Afrika zählt die WHO 150 Epidemien – das ist klar eine Gesundheitskrise. Versorgungslücken und -ungleichgewichte, die wir häufig schon viel früher aufgezeigt haben, sahen wir durch die Pandemie in großem Maßstab repliziert.
Welche Eckpunkte haben diese Gesundheitskrisen?
Es gibt keinen Zugang zu Medizinprodukten, In-vitro-Diagnostika, Arzneimitteln oder Impfstoffen, meist weil es die Produkte gar nicht gibt. Gleichzeitig treten in den Krisenregionen hohe Krankheitslasten auf, speziell im globalen Süden. Generell wird im Bereich vernachlässigter Krankheiten, wie zum Beispiel bei Malaria, auch zu wenig in Forschung und Entwicklung von Medizinprodukten oder Arzneimitteln investiert. Das führt unter anderem dazu, dass es für bestimmte Krankheiten kein Versorgungsangebot gibt, oder die Preise der Angebote für den Großteil der Bevölkerung nicht erschwinglich sind.
Weiters sehen wir, dass es häufig zwar Produkte gibt, die sind aber nicht auf den Kontext adaptiert, den einkommensschwache Länder mit geringem Pro-Kopf-Einkommen haben. So kann dort zum Beispiel kaum eine Ultra-Kühlkette eingehalten werden oder Medizintechnik mit hoher Anschlussleistung betrieben werden. Ähnliches gilt für Laborgeräte oder Verbrauchsmaterialien, hier würden wir uns einfache Einsteigersysteme wünschen, die an die Gegebenheiten in diesen Ländern angepasst sind. Wir haben zum Beispiel selbst einfache, tragbare Lösungen für Laborkapazitäten entwickelt, weil es das Angebot einfach nicht gibt. Manche Röntgengerätehersteller gehen mit gutem Beispiel voran und haben robuste, handhabbare Geräte für diesen Markt entwickelt. Dabei muss auch an Ersatzteile, Service und Reparaturmöglichkeiten gedacht werden. Medizinprodukte-Unternehmen entdecken – auch unter dem Nachhaltigkeitsaspekt – langsam diese Nische, um auf diesem Weg ihre Produktionsstätten zu internationalisieren, ihre Märkte auszuweiten und Lieferketten zu verkürzen.
Wie kommen Medizinprodukte an ihre Einsatzorte?
Wir haben zwei große Logistikzentren – eines in Brüssel und eines in Bordeaux in Südfrankreich. Dort wird fast alles zentral eingekauft und in Kits assembliert, wie zum Beispiel ein Cholera-Kit für 550 Personen oder ein chirurgisches Kit für zehn Amputationen. Wir haben im Vorjahr damit in 72 Ländern rund 500 Projekte mit insgesamt 2.000 Gesundheitseinrichtungen abgewickelt und versorgt. In jedem Land, in dem wir tätig sind, gibt es Notfallpläne, wo wir uns auf die wahrscheinlichsten länderspezifischen Krisenfälle vorbereiten, das inkludiert auch das Vorhalten von dafür erforderlichen Medizinprodukten und Arzneimitteln. Soweit möglich wird dazu lokal beschafft. Wir waren zum Beispiel auf das Erdbeben in Nordwestsyrien insofern vorbereitet, als wir in den nationalen Lagern mit Kits für Traumata, OPs, die Wundversorgung und Amputationen ausgerüstet waren. Das hilft, um zumindest in der ersten Phase eine größere Gesundheitskrise aufzufangen.
Wie beurteilen Sie das Krisenszenario in Österreich während der Pandemie?
Wir sind per Definition ja nicht in Österreich medizinisch tätig, daher können wir diesen Teil nicht gut einschätzen, aber was man gesehen hat: Gesellschaften, die dachten, sie haben endlose Ressourcen, sind trotzdem rasch an ihre Grenzen gestoßen. Wir hatten beispielsweise Feldspitäler in Norditalien aufgestellt und waren in vielen weiteren europäischen Ländern unterstützend tätig. Ein Schwerpunkt war zum Beispiel der Schutz von Patienten und Personal in Spitälern oder Bewohnern in Seniorenheimen durch vorbeugende Infektionskontrolle, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Was die konkrete Versorgung angeht, so war es uns wichtig, dass Schutzausrüstung oder Impfstoffe weltweit gerecht verteilt werden. Eine globale Gesundheitskrise können wir nur in den Griff bekommen, wenn man Versorgungsungleichgewichte ausgleicht!
Wonach werden die Einsatzgebiete ausgewählt?
Wir haben vier Prinzipien, die uns leiten: Humanität, Neutralität und Unparteilichkeit sowie Unabhängigkeit. 98,5% unserer Finanzen werden über Privatspenden abgedeckt. Wir haben erfahrene Mitarbeiter, die den Bedarf erheben und sich selbst vor Ort von den Bedürfnissen überzeugen.
Haben Sie das Gefühl, dass wir derzeit in Österreich sicher mit Medizinprodukten versorgt sind?
Viele Krisen kommen hierzulande gar nicht an, weil das Gesundheitssystem so robust ist. Corona war ein enormer Stresstest und hat vor allem Ungleichgewichte schonungslos sichtbar gemacht. Ich hoffe, wenn man weltweit das Geschehen evaluiert, dass wir feststellen, dass man die Situation mit einer zeitweisen Aufhebung der Patente hinbekommen hätte können. Die Pandemie war ein Weckruf, um uns daran zu erinnern, dass Gesundheitskrisen häufiger und wahrscheinlicher werden und dass wir uns dringend auf die nächste Pandemie vorbereiten müssen. Dazu gibt es schon Verhandlungen zu einem völkerrechtlichen globalen Pandemievertrag.
Was für Learnings sollten wir aus der Pandemie mitnehmen?
In Österreich haben wir gesehen, dass vieles möglich ist, wenn alle Stakeholder an einem Strang ziehen, und das wäre jetzt auch bei einer Evaluierung wünschenswert. Im Krisenfall sind Transparenz und Koordination auf jeden Fall eine wichtige Voraussetzung. Gemeinsam müssen wir Resilienz aufbauen. Life Sciences sind zu wichtig, um ein System nur auf den Optimalfall auszurichten.