Risikoanalytiker warnen vor einer deutlichen Zunahme der Katastrophen und Schadensereignisse knapp unterhalb der Katastrophenschwelle auch in Mitteleuropa. Wenngleich deutliche Unterschiede zwischen den Analysen der Rückversicherungsgesellschaften und denen der Katastrophenforscher bestehen, müssen diese Aussagen sehr ernst genommen werden. Dazu gehört unter anderem auch, für die entsprechende Manpower zu sorgen, die im Ernstfall benötigt wird. Doch: „Aus Erfahrung weiß ich, dass die Katastrophenmedizin bei der studierenden Jugend kaum gefragt ist. Dies führt wiederum zur Reaktion der Professoren, diesem Kapitel der medizinischen Ausbildung wenig Bedeutung beizumessen“, erklärt MR Dr. Bernd Mayer, Lehrbeauftragter für Katastrophenmedizin an der Universität Graz. Der Mediziner widmet sich seit Anfang der 70er-Jahre der Katastrophenmedizin. Mangels passender Ausbildungsmöglichkeiten in Österreich wechselte er in die Schweiz, nach Deutschland und nach Ungarn. „Zu dieser Zeit gab es zwei umfassende Lehrbücher in deutscher Sprache für das Fach Katastrophenmedizin und daran hat sich bis heute nichts geändert“, resümiert Mayer und schließt die berechtigte Frage an: „Ist Katastrophenmedizin überhaupt notwendig?“
Angesichts von gar nicht so weit zurückliegenden Meldungen über Überflutungen, Murenabgänge oder Sturmschäden, die das Leben von Menschen und deren Umwelt bedrohen und schädigen, ergeben sich für den Experten drei zentrale Fragen:
Bin ich in der Lage, in dieser Situation meiner Aufgabe und Pflicht, in Not geratenen Menschen zu helfen, nachzukommen? Reichen meine Ausbildung und mentale Vorbereitung und Stärke aus, um einen Massenanfall von Verletzten und Toten bestmöglich abzuarbeiten, welche taktischen Grundsätze muss ich zur Anwendung bringen, um bei den eingeschränkten Möglichkeiten im Einsatzgebiet für eine größtmögliche Zahl von Betroffenen das Überleben zu sichern? Liegt mein Einsatzgebiet in einer Region, wo ich auf sozio-religiöse Besonderheiten achten muss? „Unzählige solche Fragen steigen in einem Einsatz hoch, allen aber ist eines gemeinsam – sie hängen ganz eng mit unserer Ausbildung zusammen. Und kaum einer hat in seiner medizinischen Ausbildung etwas über Ökonomie der Kräfte, Logistik in Extremsituationen, Vulnerabilität der kritischen Infrastrukturen, einsatztaktische Führung in Krisensituationen oder situatives Handeln gelernt“, zeigt Mayer auf und ergänzt: „Es reicht nicht aus, bei einem Großschadensereignis einfach ein notfallmedizinisches Team aufzustocken. Katastrophenmedizin ist ein multifaktorielles Fach, dem muss in der Ausbildung und besonders im Einsatz Rechnung getragen werden.“
Mayer führte daher selbst vor einigen Jahren eine EU-weite schriftliche Befragung durch und stellte auch fest, dass in den meisten Fällen Lehrpläne für eine katastrophenmedizinische Ausbildung vorhanden sind, wenn auch nur unvollständig. „Umfang und Inhalte dieser Lehrpläne sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Meist bilden notfallmedizinische Themen das Grundgerüst. Auch die Definitionen und die Terminologie sind sehr different“, so der Mediziner. Fazit: Einer der wichtigsten taktischen Grundsätze der Katastrophenmedizin – die Triage – wird nur am Rande erwähnt. Sozio-religiöse oder ethnologische Themen werden nur in ganz wenigen Fällen angesprochen. Katastrophenhygiene, wie etwa Sicherstellung von Trinkwasser oder Fäkalienentsorgung, zählt ebenso zu den seltenen Lehrinhalten wie Epidemiologie, Katastrophenpsychologie und Katastrophenpsychiatrie. Auf die psychologische Vorbereitung des Arztes wird in keinem Programm eingegangen.
Womit medizinische Helfer im Katastrophenfall konfrontiert sind
Katastrophenmedizinische Lehrveranstaltungen als Pflicht findet man in der Schweiz als Blockkurs von zwei Tagen, zum Teil in Deutschland und einstens in allen Staaten, die dem Warschauer Pakt angehörten. Heute ist auch dort eine sinnvolle und geregelte Ausbildung eine Seltenheit. Eine Ausnahme bildet Lettland mit einer 14-tägigen universitären Ausbildung. In Frankreich wird dieses Fach in Amiens angeboten. In den übrigen Ländern Europas und auch in Österreich stehen vier bis acht Vorlesungsstunden als Wahlfächer auf dem Programm. Der Versuch, an der Donau-Universität Krems in Kooperation mit der Paracelsus-Universität Salzburg einen postpromotionellen Studienlehrgang „Katastrophenmedizin“ zu installieren, scheiterte bereits in der frühen Planungsphase.
Wesentliche Teile einer Ausbildung für Ereignisse knapp unterhalb der Katastrophenschwelle werden heute im Kurs für „Leitende Notärzte“ angeboten. Bislang wurden hier über 600 Ärzte zum Leitenden Notarzt ausgebildet. Die Internationale Gesellschaft für Katastrophenmedizin hat ein Ausbildungscurriculum erarbeitet, das die Grundlage für das Studium zum Master of Disaster Medicine bildet. „Aber auch in diesem fehlen meiner Meinung nach wesentliche Ausbildungselemente, wie etwa sozio-religiöse Besonderheiten in verschiedenen Einsatzländern oder die psychologische Einsatzvorbereitung für die Helfer. Eine Ausbildung nach diesem Curriculum wird nur von der Universität Turin in Zusammenarbeit mit der Universität Brüssel angeboten, praktische Übungen während dieser Ausbildung finden kaum statt“, resümiert Mayer.
Zielsetzung der Katastrophenmedizin muss es sein, die vorhandenen medizinischen Ressourcen möglichst optimiert einzusetzen, um das Überleben für die größtmögliche Zahl von Geschädigten sicherzustellen und die bestmöglichen Voraussetzungen für die medizinische Endversorgung zu schaffen. Standardisierte Behandlungspläne tragen nicht nur zu einem besseren Output bei, sondern sind auch in der Bevorratung von Medikamenten und medizinischen Verbrauchgütern wichtig. „
Nicht eine medizinische Bravourleistung bei der Versorgung eines einzelnen Patienten zählt, sondern die Zahl der Überlebenden bewertet die Effizienz der medizinischen Katastrophenhilfe“, meint Mayer. Strategische Grundsätze bei der medizinischen Versorgung in außerordentlichen Lagen sind, dass eine einfache Triage und rasche Behandlung vielen Katastrophenopfern das Überleben sichern. Außerdem sollen die Behandlungen so gewählt werden, dass sie mit einem Mal oder wenigen Malen zum Erfolg führen. Das Leben geht vor Erhalt von Gliedmaßen, der Erhalt der Gliedmaßen geht vor Erhalt der Funktion und der Erhalt der Funktion geht vor Erhalt der Kosmetik. Der primäre Wundverschluss ist mit wenigen Ausnahmen verboten. Die mehrphasige und etappenweise medizinische Versorgung sieht vor, dass nur unbedingt notwendige medizinische Behandlungen im Schadensgebiet durchgeführt werden und alles Weitere auf die nächsten Versorgungsetappen verschoben wird.
Die Rechtsordnung in Katastrophensituationen wird meist von den nationalen Gesetzen bestimmt. Über das Ganze spannt sich nur ein dünnes Netz von Konventionen, wie zum Beispiel zum Schutz der Hilfskräfte und Betroffenen. Als Beispiel ist die Flüchtlingskonvention nur in zwei Ausbildungen zu finden. Weder wird die mentale Vorbereitung der Hilfskräfte für Katastrophenfälle noch das psychologische Führungsverfahren bei Flüchtlingskatastrophen angesprochen. „Sieht man die Katastrophenhilfe, und hier im Besonderen die medizinische, als ethische Verpflichtung an, kann diese mit einem hohen Wirkgrad nur in einem multinationalen Kontext ablaufen“, meint Mayer. Aus diesem Grund wäre dringend eine EU-weite Angleichung bzw. Vereinheitlichung der Ausbildung anzustreben. „Ausbildungscurricula zu erstellen ist zu wenig, man muss diese Ausbildung auch anbieten. Dies würde die Qualität der medizinischen Katastrophenhilfe steigern, eine Angleichung der strategischen und taktischen Einsatzgrundsätze bewirken und unweigerlich zu einer Vereinheitlichung des medizinischen Katastrophen-Equipments führen“, resümiert der Katastrophenmediziner. Solange die katastrophenmedizinische Ausbildung in den Kinderschuhen eines noch dazu ungeliebten Kindes steckt, wird das aber vorläufig nur Wunschdenken bleiben.
Charakteristika einer Katastrophe