Je älter wir werden, desto größer sind die Chancen, gleich mehrere Leiden zu entwickeln. Chronische Erkrankungen treffen Männer häufiger als Frauen und wer das Glück hat, 65 und älter zu werden, kann davon ausgehen, dass er dann im Schnitt an zwei bis drei chronischen und behandlungsbedürftigen Erkrankungen laboriert. „Wir wissen, dass die demografische Entwicklung wie ein Damoklesschwert über uns hängt. Die Multimorbidität macht es um nichts besser, wird derzeit aber von politischen Entscheidungsträgern nicht ins Kalkül gezogen“, betont Dr. Thomas Czypionka, Senior Researcher am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien.
Das sollten sie aber, denn wer heute über die erforderlichen Strukturen nachdenkt, um morgen Herrn und Frau Österreicher auf hohem Niveau versorgen zu können, wird integrierte Versorgungsmodelle für mehrfach chronisch Kranke benötigen. Über 50 Millionen Menschen in der EU haben mehr als eine chronische Erkrankung. Mit der Zahl der Erkrankungen steigt die Zahl der Arzt- und Spitalskontakte. Die Frequenz bei den Leistungserbringern steigt und mehr Koordinationsaufwand – extra- und intramural, aber auch zwischen den Professionen – wird erforderlich. Leitlinien für einzelne Erkrankungen helfen hier wenig, denn gerade im Falle mehrerer Erkrankungen können sie sich auch widersprechen. „Mit jeder Krankheit, die durch medizinischen Fortschritt geheilt werden kann, steigt die Komplexität der erforderlichen Strukturen. Zielkonflikte entstehen“, formuliert Czypionka die Herausforderungen und schlägt vor, für häufige Kombinationen chronischer Erkrankungen – wie zum Beispiel Diabetes & chronische Wunden oder Adipositas & Herz-Kreislauf-Erkrankungen – strukturierte Behandlungsprogramme zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Idee steht die sogenannte „zielorientierte Medizin“, die mit dem einzelnen Patienten Therapieziele festlegt und gewichtet – im Bewusstsein, dass nicht alle Ziele gleichermaßen erreichbar sind. Wer mehrere Erkrankungen hat, muss gemeinsam mit dem Behandler überlegen, was das persönliche Gesundheitsziel ist. Diese ganzheitliche Sichtweise auf medizinische, aber auch sozialökonomische Bedürfnisse – denn auch Armut macht krank – fokussiert auf persönliche Präferenzen und realistische Ziele des Betroffenen anstatt auf objektive Gesundheitsresultate.
„Auf dieser Basis wird ein individueller Versorgungsplan erstellt, der Maßnahmen zur Prävention, zum Selbstmanagement und zur Therapie umfasst. Am Ende steht ein zufriedenstellendes Ergebnis für Behandler und Patient“, meint Czypionka. Der Vorteil ist aber viel weitreichender: Patienten wird bewusst, dass die Mittel begrenzt sind und die Medizin nicht für alles eine (leistbare) Lösung hat. So werden die Ressourcen effizienter und effektiver eingesetzt. Positiver Nebeneffekt: Die Berufsgruppen lernen, besser zusammenzuarbeiten und Skills aufeinander abzustimmen.
Was in den Tiefen der operativen Strukturen zur Umsetzung kommen soll, muss aber auch auf politischer Ebene verankert sein: „Wir hatten schon einmal einen Masterplan Gesundheit. Genau das braucht es – eine gemeinsame Vision, entlang derer die Herausforderungen abgearbeitet werden können“, fordert der Gesundheitsökonom.
Gerade wenn es um Herausforderungen wie Digitalisierung oder Multimorbidität geht, ist neben dem medizinischen Know-how auch die Unterstützung durch passende Medizinprodukte ein zentraler Baustein des Erfolgs. „Ohne Medizinprodukte keine Versorgungsrealität“, bringt Czypionka die Rolle der „Hidden Champions“ auf den Punkt. Auch hier weist der Experte auf die künftigen Herausforderungen hin: „Unternehmen müssen die Produkteigenschaften auf die Realitäten der Zukunft abstimmen. Das heißt konkret, dass Behandlungs- und Pflegeprozesse effizienter laufen müssen und überwiegend außerhalb der Akutversorgung stattfinden werden.“ Die Usability der Medizinprodukte wird für die Patienten oder Angehörige in den Mittelpunkt rücken. Schon jetzt zeigen zum Beispiel telemedizinische Anwendungen, wohin der Weg führt. Messwerte werden zu Hause erfasst und online übertragen, Telekonsultationen ersparen den Weg in die Ambulanz, der Patient wird Partner der Gesundheitsdienstleister. Benutzerfreundliche Medizinprodukte sind unabdingbare Voraussetzung in dieser Entwicklung.