Kennzahlen in der Anästhesie: Was bringt die Transparenz von medizinischen Leistungen?

Transparenz ist ein Schlagwort, das gerade in der Medizin aufgrund zunehmend knapper Budgets immer mehr an Bedeutung gewinnt. Kostenträger- und krankenhausbetreiberseitig bezogen ist der Wunsch nach mehr „Durchsicht“ vor allem auf Leistungen und ihre Kosten oder anders formuliert: die Folgekosten mangelnder Leistung. Lange Liegezeiten, Drehtüreffekte und Re-Operationen sind kostspielig und müssen angesichts der immer knapper werdenden Ressourcen – sowohl an Geld, aber auch an Personal – möglichst vermieden werden. Aus der Sicht der Ärzteschaft, in diesem Fall der Anästhesisten, bezieht sich Transparenz vor allem auf eine Abbildung der hochwertigen und hochspezifischen Leistungen, die Anästhesisten tagtäglich in der Versorgung ihrer Patienten erbringen und dadurch einen wesentlichen Beitrag zum hohen Standard der medizinischen Qualität unseres Landes leisten.
Die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) hat sich daher dieses Themas angenommen und eine eigene „Arbeitsgemeinschaft für Kennzahlen und Outcome in der Anästhesie“ eingerichtet. Hier soll durch die Erhebung und Aufarbeitung von Daten und Fakten ein transparenter Vergleich der bedeutenden medizinischen Leistungen des Faches an unterschiedlichen Krankenhäusern und Institutionen möglich werden. Auf Bundesebene haben sich bereits Initiativen wie A-IQI (Austrian Inpatient Quality Indicators) zur Erhebung von Kennzahlen in diesen Arbeitsbereichen entwickelt, die unterschiedliche Tätigkeitsbereiche evaluieren und Vergleiche möglich machen sollen. „Der Katalog der im A-IQI angeführten Parameter ist nicht speziell auf die Leistungen der Anästhesie abgestimmt und beinhaltet daher in manchen Punkten Potenzial zur Fehlinterpretation, wenn multifaktoriell beeinflusste Leistungsparameter zur Evaluierung von aktuellen anästhesiologischen Behandlungsstandards bewertet werden“, meint OA Dr. Martin Ponschab, Koordinator der ÖGARI-Arbeitsgemeinschaft. Gegründet wurde die ARGE 2012 mit dem Ziel, als kompetenter Berater und Ansprechpartner für valide, umsetzbare Kennzahlen zur Evaluierung der unterschiedlichen Kompetenzbereiche des Faches Anästhesie zur Verfügung zu stehen.

Praxisbezug entscheidet

Die erarbeiteten Kennzahlen aus der Anästhesie und Intensivmedizin können gemeinsam mit den Qualitätsindikatoren aus dem Bereich Notfallmedizin als Basis für Qualitätsindikatoren aus den unterschiedlichen Kernkompetenzen des Faches gesehen werden und stellen einen Meilenstein in der Dokumentation der hohen Qualitätsarbeit an allen österreichischen Anästhesieabteilungen dar. „Selbstverständlich sind die Kennzahlen keine statische Sache, vielmehr stehen die erarbeiteten Qualitätsindikatoren zur Diskussion offen und werden sich auch in Zukunft einer kontinuierlichen Evaluierung unterwerfen müssen“, meint Ponschab und ergänzt: „Eine sinnvolle Begrenzung der Anzahl von Qualitätsindikatoren erhöht die Compliance der für die Dokumentation verantwortlichen Personen, daher ist auf die Relevanz und klinische Nachvollziehbarkeit in der Auswahl der Qualitätsindikatoren zu achten.“
Internationale Vorbilder gibt es genug: In Spanien hat eine Arbeitsgruppe weit über 100 Parameter erhoben, in Deutschland haben sich zehn Fachgesellschaften zusammengeschlossen und ebenfalls Indikatoren zusammengestellt. In Österreich liegen die vorgeschlagenen Kennzahlen und Qualitätsparameter vonseiten der „ARGE Kennzahlen und Outcome in der Anästhesie“ vor, aber eine institutionalisierte Form der Erhebung steht noch aus. „Das Österreichische Zentrum für Dokumentation und Qualitätssicherung in der Intensivmedizin, kurz ASDI, hat sich schon sehr lange mit dem Thema beschäftigt und etwa die Etablierung eines Dokumentationsstandards in allen österreichischen Intensivstationen sowie eines Benchmarking-Programmes vorgeschlagen“, erklärt Ponschab und ist überzeugt, dass „es bei neuen Kennzahlen wichtig ist, den Praxisbezug und bewährte Instrumente nicht aus den Augen zu lassen, also zum Beispiel Kennzahlen zu wählen, die bereits jetzt durch die üblichen Patientendatenmanagementsysteme (PDMS) erfasst werden, da zum aktuellen Zeitpunkt die administrativen Aufgaben unseres Berufsstandes ohnehin überproportional viel Zeit in Anspruch nehmen.“
Auf der Hand liegt aber auch, dass Krankenhausträger – falls einzelne Qualitätsindikatoren nicht durch das bereits in Verwendung befindliche PDMS erfasst werden – ausreichende personelle und strukturelle Ressourcen zur Verfügung stellen müssen, die eine lückenlose Erfassung ermöglichen. „Das darf sicher keine Fleißaufgabe in der Freizeit werden“, betont der Leiter der ÖGARI-Arbeitsgruppe. Ziel ist jedenfalls die Einarbeitung aller zu erhebenden Qualitätsindikatoren in bestehende PDMS zur lückenlosen Erfassung bei gleichzeitiger Minimierung des zusätzlichen Arbeitsaufwandes.

Kennzahlen der Intensivmedizin

Die ÖGARI hat eine – noch zur Diskussion offene – Liste von Qualitätsindikatoren für den Intensivbereich erstellt. Primär soll eine Qualitätsdokumentation über Erkennung von Stärken und Schwächen eine Qualitätsverbesserung ermöglichen und sekundär lückenlose Informationen über die anästhesiologische Betreuung liefern. Nachdem das Fach der Anästhesie und Intensivmedizin viele Schnittstellen zu anderen Bereichen aufweist, sollen in weiterer Folge die Kennzahlen auch anderen Fachbereichen wie etwa der inneren Medizin oder der Neurologie vorgestellt werden. „Im Idealfall kommen wir zu einem gemeinsamen Vorgehen in der Indexerstellung trotz unterschiedlicher Schwerpunkte“, wünscht sich Ponschab. Mit der Aufbereitung von sechs Qualitätsindikatoren in der Intensivmedizin wurde ein erster Index als Vorschlag erstellt, der nach Genehmigung durch den Vorstand der ÖGARI als Empfehlung an das Gesundheitsministerium übermittelt werden soll.

Kennzahlen der Notfallmedizin

Die präklinische Notfallmedizin ist grundsätzlich interdisziplinär und interprofessionell ausgerichtet, wobei der Anästhesiologie sowohl in der Ausbildung, der Durchführung als auch im Qualitätsmanagement eine führende Rolle zukommt. Beispielgebend sind hier etwa die Atemwegssicherung, die präklinische Traumaversorgung, die Einleitung und Aufrechterhaltung einer Narkose, aber auch die Analgosedierung und die standardisierenden Maßnahmen der Reanimation zu nennen. „Notfallmedizin ist wohl das zeitkritischste Gebiet der Medizin, so können zum Beispiel bei der Reanimation Maßnahmenverzögerungen von wenigen Minuten eine deutliche Rolle für die Überlebensqualität spielen. Damit muss der Faktor Zeit zwingend auch in den Kennzahlen der Notfallmedizin berücksichtigt werden“, erklärt der Experte.
In den letzten Jahren haben sich in der Notfallmedizin der Begriff und die Betrachtung von „Tracerdiagnosen“ etabliert. Darunter werden die Diagnose- bzw. Maßnahmenkategorien bei der Reanimation, beim polytraumatisierten Patienten, beim Schädel-Hirn-traumatisierten Patienten, beim Patienten mit akutem Koronarsyndrom und beim Patienten mit Schlaganfall verstanden. Diesen Tracerdiagnosen ist gemeinsam, dass sie alle in sich relativ homogen, zeitkritisch und therapierelevant sind, die Versorgungskriterien nach vorgegebenen, in der Regel internationalen Leitlinien standardisiert sind und die Patienten jeweils innerhalb eines definierten Zeitfensters in für die jeweilige Versorgung geeignete Krankenhäuser gebracht werden sollen. Kennzahlen der Notfallmedizin sollen sich daher auf diese Tracerdiagnosen zu beziehen.
Qualitätsmanagement in der Notfallmedizin ist auf engste Kooperation mit einer Reihe von Personen und Strukturen angewiesen, deren Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität die notfallmedizinische Versorgung wesentlich mitbeeinflusst. Dazu zählen neben den Patienten, Angehörigen, Ersthelfern und Meldern auch die Rettungsleitstelle, die Ressourcen des Rettungsdienstes, die Notaufnahme des Krankenhauses, aber auch der Hausarzt als Behandlungseinrichtung.

Kennzahlen der Anästhesie

Ziel muss sein, durch die Erhebung von wenigen Indikatoren sogenannte AVB (Anästhesie-Verlaufs-Beurteilungen) im Sinne eines Qualitätssicherungsprogrammes zu erstellen. Eine sinnvolle Begrenzung der Anzahl von Qualitätsindikatoren erhöht die Compliance der für die Dokumentation verantwortlichen Personen. „Vorbedingungen eines Qualitätssicherungsprogrammes in der Form müssen ein logischer Aufbau in der computergestützten Dokumentation sein, ein chronologischer Ablauf folgend den standardisierten Arbeitsschritten bei unterschiedlichen Anästhesieverfahren sowie die Beschreibung von repräsentativen Outcome- und Qualitätsparametern“, gibt Ponschab Einblick.
Der Faktor Zeit gewinnt durch den ökonomischen Druck auch für das Fach Anästhesie zunehmend an Bedeutung, ist jedoch als relevanter Qualitätsindikator ein unzureichendes, wenn nicht sogar missverständliches Werkzeug zur Beschreibung von Anästhesieleistungen, da der Zeitaufwand von individuell unterschiedlichen Patienten- und eingriffsbezogenen Faktoren abhängt. Daher wird der Faktor Anästhesiezeit zum aktuellen Zeitpunkt bewusst nicht als Kennzahl für den Fachbereich Anästhesie berücksichtigt.
Zur Erarbeitung von Qualitätsindikatoren wurde der Schwerpunkt „Anästhesie“ in chronologisch aufeinander folgende ­unterschiedliche Arbeitsabläufe unterteilt, um Kennzahlen für 1. die präoperative anästhesiologische Patientenevaluierung, 2. das anästhesiologische OP-Management, 3. den Aufwachraum und 4. die postoperative Nachsorge zu erarbeiten.

Kennzahlen der „präoperativen anästhesiologischen Patientenevaluierung“

Die präoperative korrekte Abklärung der Patienten nach den Bundesqualitätsleitlinien (BQLL) stellt ein Qualitätsmerkmal dar. Als patientenspezifische Daten müssen im Rahmen des Erstgespräches in der Anästhesieambulanz demografische Daten wie Alter, Geschlecht, und BMI erhoben werden. Erfasst wird auch der Status des Patienten in Bezug auf die Dauer des Krankenhausaufenthaltes wie ambulant, stationär oder tagesklinisch.
Nach den Empfehlungen der ÖGARI zur präoperativen Patienten­evaluierung erfolgt eine Kategorisierung der operativen Eingriffe in leichte oder schwere Eingriffe nach Dauer der OP, anatomischer Region, Blutverlust und Dringlichkeit als Kennzahl. Die Erhebung der metabolischen Äquivalente (MET) stellt die aktuelle, individuelle Belastungsfähigkeit eines Patienten adäquat dar und findet als Qualitätsindikator ebenfalls ihren Niederschlag.
Aus der derzeitig gängigen Praxis heraus erscheint eine ASA-Klassifizierung als Kennzahl zulässig, eine Erhebung des „Revised cardiac index“ nach Lee (Circulation 1999) deckt das Risikoprofil von Patienten für schwere kardiale Nebenwirkungen und somit die häufigste perioperative Organkomplikation ab und wird aufgrund der leichten Bestimmung der fünf relevanten Komorbiditäten aus der Anamnese ebenfalls als Kennzahl vorgeschlagen.

Kennzahlen der „operativen Anästhesie“

Die Auswahl des Anästhesieverfahrens definiert unterschiedliche Arbeitsschritte und stellt eine eindeutige Kennzahl zur Beurteilung von AVB dar: Allgemeinanästhesie (ITN, LMA), neuroaxiales Verfahren (SPA, PDA) und periphere Regionalanästhesie. Anästhesiezeiten und OP-Zeiten spiegeln chronologische Abläufe wider, sind aber, wie bereits dargelegt, als Qualitätsparameter ungeeignet. „Als relevante Kennzahlen für AVB scheinen Intubationsschwierigkeiten und Beatmungsschwierigkeiten geeignet zu sein, insbesondere deutet ein Wechsel des Anästhesieverfahrens auf mögliche Komplikationen im Sinne einer Abweichung vom üblichen Procedere des anästhesiologischen Vorgehens hin“, erklärt Ponschab.
Im Rahmen eines adäquaten perioperativen kardiorespiratorischen Monitorings können Hypoxien oder eine katecholaminpflichtige Kreislaufinstabilität relevante Kennzahlen darstellen. Reanimation oder ungeplante Verlegung aus dem OP direkt auf die Intensivstation sind ebenfalls als relevante Abweichungen einer üblichen AVB einzustufen.

 

Im Gespräch: OA Dr. Martin Ponschab
Wer hat Interesse an der Transparenz der Spitalsleistungen?
Eigentlich alle, aber natürlich spielt auch die Angst mit, damit unter Druck zu kommen. In dem Moment, wo Leistung bewertet wird oder in Relation zu den Leistungen vergleichbarer Abteilungen gesetzt wird, kann das rasch auch auf die persönliche Ebene des Einzelnen heruntergebrochen werden. Genau das darf nicht das Ziel von Kennzahlen sein! Wir wollen damit Verbesserungspotenziale sichtbar machen, nicht aber Einzelpersonen diskreditieren.
Wo sehen Sie die Vorteile für den einzelnen Arzt?
Aus meiner Sicht ist die Transparenz auch ein persönlicher Gewinn, denn man kann die eigenen Stärken und Schwächen herausarbeiten und an der eigenen Positionierung innerhalb der Abteilung arbeiten. Das Patientenwohl steht für mich immer im Vordergrund bei der Arbeit mit diesen Kennzahlen und das muss wohl im Sinne jedes Mediziners sein. Umgekehrt heißt das aber, das System darf nicht zwangsverpflichten, es muss auf Freiwilligkeit basieren und es muss „bottom up“ entstehen, also von den Betroffenen entwickelt werden und nicht am Reißbrett oder von oben verordnet sein.
Was war für Sie der wichtigste Meilenstein in diesem Projekt?
Dass wir jetzt in unserem Fach eine klare Strukturierung unserer Leistung haben, die dem Ablauf der Patientenbehandlung entspricht – also von der Aufnahme über die Ambulanz bis zur postoperativen Nachsorge. Wir haben jetzt Kennzahlen, die gerade einem Reviewprozess unterliegen, damit sie dann so definiert sind, dass jeder, der damit arbeitet, auch das Gleiche darunter versteht und keine Fehlinterpretationen möglich sind.
Wo sehen Sie die größten Hindernisse bei der Umsetzung?
In der Flächendeckung, dass wir derzeit viele unterschiedliche Patientenmanagementsysteme haben – von EDV-Programmen bis hin zu handschriftlichen Notizen. Da hat die ÖGARI-ARGE auch wenig Einfluss darauf. Wichtig wird es auch sein, die Ärzte zu begeistern, zu motivieren. Wer das Kennzahlensystem als Prüfung betrachtet und Angst vor Versagen hat, wird ihm nicht besonders motiviert gegenüberstehen und auch keine Verbesserungspotenziale wahrnehmen. Und last but not least, auch wenn das System freiwillig sein soll, macht es nur Sinn, wenn auch alle mitmachen.
Ist die Ausweitung geplant, die auch eine Kommunikation der Ergebnisse zum Patienten hin umfasst?
Ja, in der operativen Nachsorge wird explizit die Patientenzufriedenheit ab­gefragt. Wir wissen aus Studien, dass hinter der Hotelkomponente sofort das Thema Schmerz oder die postoperative Übelkeit als Störung des subjektiven Wohlbefindens für die Zufriedenheit der Patienten in der Spitalssituation ausschlaggebend ist. Da sind wir als Anästhesisten natürlich gefordert!
Was sind die nächsten Schritte?
Derzeit durchlaufen die ausgearbeiteten und definierten Kennzahlen einen internen Reviewprozess innerhalb der ARGE, danach erfolgt die Vorlage und Weiter­gabe der gesammelten Qualitätsparameter an den Vorstand der ÖGARI zur ­Genehmigung und Empfehlung. In weiterer Folge sind eine entsprechende interdisziplinäre Diskussion, Publikation und Weitergabe an die österreichischen Anästhesieabteilungen geplant. Nach Genehmigung durch den Vorstand der ÖGARI soll der Kennzahlkatalog als Empfehlung an das Gesundheitsministerium übermittelt werden. Wir blicken hier zuversichtlich auf gemeinsame konstruktive Schritte von Gesundheit und Politik zum Wohle unserer Patienten.