Künstliche Intelligenz in der Medizin

© Oliver Miller-Aichholz

Eine wichtige Grundlage für die KI-Forschung war die Idee, dass sich die Denkprozesse des Menschen auf Maschinen übertragen lassen könnten. Das Konzept der KI wurde erstmals in den 1950er-Jahren formuliert, als Computerwissenschaftler begannen, die Möglichkeit zu untersuchen, Maschinen zu entwickeln, die menschenähnliches Denken und Lernen simulieren können. Künstliche Intelligenz (KI) und Artificial Intelligence (AI) stehen heute synonym für jenen Bereich der Informatik, der sich mit der Entwicklung von Systemen und Maschinen befasst, die in der Lage sind, menschenähnliche Intelligenzfunktionen wie Lernen, Problemlösung, Sprachverstehen und Entscheidungsfindung zu simulieren.

Was unterscheidet die Medizin von anderen Lebensbereichen?
AI hat ihre Wurzeln in der Naturwissenschaft, den neuronalen Netzwerken, die heute einen zentralen Teil der modernen KI-Forschung bilden. Nach ersten Forschungen in den 1940er-Jahren ebbte der Hype ab. In den 1980er-Jahren wurde entdeckt, dass neuronale Netzwerke bei der Lösung komplexer Aufgaben trainiert werden können. Neuronale Netzwerke sind von der Funktionsweise des menschlichen Gehirns inspiriert, insbesondere von den Neuronen und Synapsen, die Signale verarbeiten und miteinander kommunizieren. Obwohl künstliche neuronale Netzwerke deutlich vereinfacht sind und nicht exakt wie das Gehirn funktionieren, haben sie sich als sehr leistungsfähig erwiesen, wenn es darum geht, komplexe Muster und Zusammenhänge in großen Datenmengen zu erkennen.
Neuronale Netzwerke, insbesondere die tiefen neuronalen Netzwerke (Deep Learning), erlebten in den 2000er-Jahren einen erheblichen Fortschritt, vor allem aufgrund der Verfügbarkeit großer Datenmengen (Big Data), schnellerer Rechenleistung und verbesserter Algorithmen. Diese Fortschritte führten zu den Ergebnissen, die wir heute sehen, beispielsweise in der Bild- und Spracherkennung, maschinellen Übersetzungen und autonomen Fahrzeugen.
Ich denke nicht, dass der Unterschied zu anderen Lebensbereichen groß ist, denn es geht immer um die Interaktion intelligenter Systeme. Das gilt zum Beispiel bei der Mobilität und selbstfahrenden Systemen genauso wie bei Anwendungen in der Medizin, wo der Mensch im Vordergrund steht.

Wo sehen Sie große Meilensteine von AI in der Medizin?
Wenn man die Medizin der letzten 1.000 Jahre Revue passieren lässt, so zeigt sich, dass der Mensch in immer kleinere Teile zerlegt werden konnte: Nach den Organen folgten die Zellen, dann Atome und Moleküle. Diese reduktionistischen Schritte aller Lebensvorgänge gingen Hand in Hand mit einem immer größeren Erfahrungsschatz, der es erlaubte, neue Diagnosen und Therapien zu entwickeln. Der letzte Schritt der digitalen Medizin ist es nun, den Menschen in Form eines Datensatzes abzubilden.

Wie weit sind die Anwendungen bereits in der Realität angekommen?
Aktuell sehen wir noch einen Großteil der AI-Anwendungen im Bereich der Administration, bei wiederkehrenden Prozessen, vor allem wenn es um die Mustererkennung geht. Die Maschine ist immer gleich schnell und gut ausgeschlafen, der Erfahrungsschatz wächst täglich in einem enormen Ausmaß – da kann der Mensch auf Dauer nicht mithalten.
Die große Domäne in der Medizin ist aktuell die Diagnostik, und hier vor allem die Radiologie, die Dermatologie, die Augenheilkunde oder die Pathologie sowie die Labormedizin. AI-Algorithmen entdecken etwa Läsionen, schätzen Krebsrisiken ein, helfen bei der Diagnose von Erkrankungen mit komplexen Erscheinungsbildern oder dienen der Frühwarnung.
Sie können Krankheitsmerkmale in Bildern identifizieren, die man vielleicht nicht sehen würde, wenn man nicht danach sucht.
Es gibt sehr gut validierte Algorithmen, die Prozesse beschleunigen und die Diagnosequalität erhöhen.

Gibt es Beispiele, die Sie besonders beeindrucken?
Ich habe kürzlich gelesen, dass ein AI-System über ein EEG Vokabeln ausgeben kann, an die Menschen mit Sprachbeeinträchtigungen denken. Bis vor Kurzem waren das etwa 50 Vokabeln, nun sind es 125.000 Wörter innerhalb von 25 Tagen, die diese Maschine lernt. Das ist schon beeindruckend.

© Oliver Miller-Aichholz

Ein weiteres Beispiel ist ein Bildgebungssystem für Ganzkörperaufnahmen, das an unserer Universitätsklinik für Dermatologie im Einsatz ist. Im Vergleich zur bisher verwendeten 2-D-Ganzkörperfotografie, die bis zu 20 Minuten in Anspruch nimmt, kann nun innerhalb weniger Sekunden fast die gesamte Hautoberfläche in Makroauflösung aufgenommen werden.
Das System unterstützt die Behandlerinnen und Behandler bei der Unterscheidung von Melanomen zu anderen Hautläsionen und ermöglicht die Diagnose von Melanomen in sehr frühen Stadien. In das Gerät ist ein innovatives KI-gesteuertes Bewertungssystem für verdächtige Läsionen integriert. Die KI wurde zuvor anhand von mehr als 66.000 von Ärztinnen und Ärzten kommentierten Bildern trainiert. Die neu aufgenommenen Läsionen der Betroffenen werden gruppiert, vermessen und verglichen, um entstehende oder sich verändernde Läsionen frühzeitig zu entdecken.

Welche Rolle spielt KI in der Forschung?
KI-Anwendungen unterstützen Ärztinnen und Ärzte bei ihren Entscheidungen und sorgen für neue Erkenntnisse in der Forschung. An der MedUni Wien ist AI als Teil der digitalen Medizin in der Strategie verankert und wird nicht nur eingesetzt, sondern auch erforscht und weiterentwickelt. Viele der genannten Beispiele sind derzeit erst im Forschungsstadium und noch nicht im Echtzeit-Einsatz.
An der MedUni Wien untersuchen etwa 100 Forscherinnen und Forscher medizinische Fragestellungen mittels AI-Tools und entwickeln diese Technologien weiter. So wird Machine-Learning zum Beispiel genutzt, um Vorhersagemodelle für die personalisierte Behandlung von Krankheiten wie Brust- und Lungenkrebs zu entwickeln.

© Oliver Miller-Aichholz

Ist jemand von einer seltenen Erkrankung betroffen, wird häufig eine Genomsequenzierung durchgeführt, um im Erbgut jene Mutationen oder genetischen Varianten zu finden, die die Symptome erklären. Das Genom jedes Einzelnen weicht in Millionen von Positionen vom Durchschnitt aller Menschen ab. Jene genetischen Varianten zu identifizieren, die einer Erkrankung zugrunde liegen, ist eine große Herausforderung. Hier helfen die Methoden des maschinellen Lernens.
Die Einsatzgebiete der neuen Technologien in der Medizin werden an der MedUni Wien in ihrer Breite erforscht: von molekularen und zellulären Vorgängen über das Zusammenspiel von neuronalen Signalen mit Körperteilen oder Prothesen bis hin zu Schlafforschung. Molekulare Präzisionsmedizin wäre ohne AI nichtmöglich.

Wie wird die nächste Generation von Medizinerinnen und Medizinern auf die veränderten Herausforderungen in der Lehre vorbereitet?
Die MedUni Wien hat in ihrer Strategie verankert, im digitalen Wandel eine führende Rolle zu spielen. Dabei ist es unser erklärtes Ziel, AI nicht nur verantwortungsvoll einzusetzen, sondern auch visionär weiterzuentwickeln. Umfragen zeigen, dass der Einsatz von KI in der Medizin ganz stark mit der Frage nach dem Vertrauen verknüpft ist: Menschen vertrauen immer noch lieber einem Menschen als einer Maschine. Das hat vermutlich mit einem Unbehagen vor Kontrollverlust zu tun. Aber auch die Angst vor Arbeitsplatzverlusten und viele andere Vorbehalte kommen hier dazu, die man ernst nehmen muss.
In der Lehre stehen wir daher vor der großen Herausforderung, die jungen Menschen auf etwas vorzubereiten, was wir heute in der vollständigen Dimension selbst noch nicht vorhersagen können. Wir wissen, dass die Arbeitsweise der Medizinerinnen und Mediziner einem massiven Wandel unterliegt, aber wie der in fünf oder zehn Jahren konkret aussehen wird, wissen wir nicht – das ist ein „Moving Target“.

Wo sehen Sie die Medizin von morgen?
Es gibt hier eine dystopische Sicht, die vor allem die negativen Aspekte hervorhebt. Ich bin ein Anhänger der optimistischen Variante:
Ärztinnen und Ärzte werden weitgehend von nicht-ärztlicher Tätigkeit entlastet und die Arzt-Patienten-Beziehung rückt wieder ins Zentrum. Ich sehe die Medizinerinnen und Mediziner von morgen in einer Beratungsfunktion in einer hochtechnisierten Umgebung. In der Lehre geht es daher darum, eine Haltung zu vermitteln, denn die Inhalte, die wir heute lehren, sind vielleicht morgen schon überholt. Diese Haltung heißt, dass Medizinerinnen und Mediziner lernen, wie sie die Daten beurteilen, bewerten und für ihre Diagnosen und Therapien bestmöglich heranziehen können.
Am Beispiel der Onkologie sehen wir die Entwicklung:
Früher gab es für jeden Tumor ein Therapieschema. Heute wird der Tumor analysiert, individuelle Muster werden abgeleitet und ein personalisierter Therapieplan von einem hochspezialisierten Gremium wird festgelegt.
Mit dieser zunehmenden Informationsflut werden wir bald nicht mehr mithalten können und hier hilft die AI, die eben auf die Erkennung von Mustern spezialisiert ist. Pro Patientin oder Patient haben wir schon Krankenakten im Umfang von Terabyte-Speicher, das kann die einzelne Ärztin oder der einzelne Arzt gar nicht mehr überblicken. Diese Datenanalyse der sogenannten Deep Medicine unterscheidet die herkömmliche „Shallow Medicine“, die nur an der Oberfläche arbeiten kann.

© Oliver Miller-Aichholz

KI in der Medizin kann nicht diskutiert werden, ohne auch die Fragen nach den ethischen Rahmenbedingungen zu stellen. Braucht es neue Regeln?
Ich bin Mitglied vieler Gesellschaften, die dieses Thema intensiv diskutieren. In Österreich sehen wir, dass KI nicht als Chance, sondern eher als Bedrohung wahrgenommen wird. Das hängt auch mit der hohen Wissenschaftsskepsis zusammen und hemmt die Entwicklung rund um die Digitalisierung. Ich denke, dass wir in Europa die Chancen unbedingt nutzen müssen.

Wenn wir in fünf Jahren das Interview noch einmal machen, was wünschen Sie sich dann von der Digitalisierung und den KI-Anwendungen?
Wir werden viele spannende neue Anwendungen sehen. Wir werden einheitliche Standards haben, sodass die Systeme ein hohes Maß an Interoperabilität gewährleisten und echte Vernetzung möglich machen.