Dieses und eine Reihe weiterer Spannungsfelder standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung des Gremiums des Foto-, Optik- und Medizinproduktehandels der Wirtschaftskammer Wien, die kürzlich in Wien stattgefunden hat. Obmann KommRat Mag. Alexander Hayn illustrierte eingangs, wie tief verwurzelt die Skepsis gegenüber technischen Neuerungen in der Medizin ist. Er erinnerte etwa daran, dass selbst das Stethoskop bei seiner Erfindung im Jahr 1816 auf Widerstand stieß: „Es wurde befürchtet, dass der Einsatz die Distanz zwischen Arzt und Patient vergrößert und so die Qualität der Behandlung beeinträchtigt. Heute stehen wir an einem Punkt, an dem Expertensysteme personalisierte Therapieempfehlungen aus Millionen von Datensätzen generieren können. Gleichzeitig wächst auch die Sorge, ob Maschinen sicher sind und über Leben und Tod entscheiden dürfen“, fasst Hayn zusammen und mahnt: „Bei allen technischen Entwicklungen dürfen wir nie vergessen, dass die Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt stehen müssen.“ Medizin ist auch Zuwendung und Empathie und je mehr Technik in das Feld Einzug hält, umso fragiler wird das Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren.
Univ.-Prof. Dr. Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien, erläuterte die Evolution der Medizin hin zu immer kleiner werdenden Einheiten – von der Organ- zur Zellebene bis hin zur Molekularmedizin. „Nun eröffnet sich mit der Digitalisierung eine neue Ebene, die den Menschen als Summe an Information und am Ende als Datensatz abbildet.“ Bei aller Euphorie gegenüber den neuen digitalen Entwicklungen bremst Müller aber auch: „Wir stehen mit KI-Anwendungen noch ganz am Anfang. Aktuell liegt der Schwerpunkt der Anwendungen in der Medizin vor allem in administrativen Aufgaben und Bildanalysen in Bereichen wie Radiologie, Dermatologie Augenheilkunde und Pathologie.“ Doch neue innovative Felder werden sukzessive eröffnet, wie etwa ein Beispiel zeigt: Patientinnen und Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) können mithilfe von KI Sprachsysteme steuern. Während vor drei Jahren dieser Prozess bei etwa 50 Wörtern geendet hat, stehen wir heute bei 125.000 – in nur fünf Tagen. „Gleichzeitig zeigt eine Umfrage aus Deutschland, dass nur 41 % der Menschen KI vertrauen, während es bei Ärztinnen und Ärzten 81 % sind. Interessanterweise sinkt das Vertrauen in Ärztinnen und Ärzte, die mit KI-Unterstützung arbeiten, auf 68 %“, beschreibt Müller das Spannungsfeld zwischen Innovation und Skepsis. Dennoch ist er überzeugt, dass der Einsatz von KI vor allem dazu führen wird, dass Gesundheitspersonal von administrativen Lasten befreit wird und so wieder mehr Zeit für die Mensch-zu-Mensch-Interaktion geschaffen werden kann.
Dr.in Anita Puppe, Senior Consultant Strategy und Business Design bei IBM iX DACH, betont die Vielseitigkeit der KI, etwa in der Patientenkommunikation, der Präzisionsmedizin oder bei der Früherkennung von Krankheiten. „Chatbots können Sprachbarrieren im Patientengespräch überwinden, während Wearables und Telemedizin personalisierte Empfehlungen ermöglichen und zu Hause bei Lebensstilveränderungen unterstützen“, beschreibt sie nur einige Anwendungen, die längst keine Zukunftsmusik mehr sind. Aber auch Nutzung von Nanorobotern, die aufgrund des unterschiedlichen pH-Wertes gezielt Tumorzellen erkennen und zerstören können, könnte schon bald eine belastende Chemotherapie überflüssig machen. „KI kann Ärztinnen und Ärzte bei Entscheidungen unterstützen, Fehler reduzieren und Patientinnen und Patienten mit gezielten Informationen versorgen“, sagt Puppe. Der Vorteil gegenüber dem Menschen ist einfach erklärt: KI arbeitet schnell, zuverlässig und wird auch bei hoher Belastung nicht müde. „Wichtig ist, dass wir keine Angst vor KI haben und Vertrauen in Innovation setzen. Je schneller wir in die Umsetzung kommen, umso rascher sammeln wir positive Erfahrungen,“ so Puppe.
Dr. Thomas Wochele-Thoma, ärztlicher Leiter der Caritas Wien, umreißt ein weiteres Spannungsfeld: die Solidarität in der Gesellschaft und die Gefahr, dass Menschen aufgrund fehlender Digitalkompetenz und mangelnder Gesundheitskompetenz keinen gleichberechtigten Zugang zu innovativer Medizin haben können. Die Caritas bietet medizinische Betreuung für Bedürftige, die oft unter schwierigen Bedingungen leben, an. „KI hat das Potenzial, die Effizienz und die Qualität der Versorgung zu steigern. Unser Ziel ist die Kombination von technologischem Fortschritt und der Menschlichkeit der Caritas“, sagt Wochele-Thoma. Er weiß auch, dass der rasante medizinische Fortschritt nicht bei allen Menschen gleich gut ankommt, etwa in den Pflegewohnhäusern. Hier setzt er sich besonders für die Nutzung von Telemedizin ein: „Für Pflegebedürftige ist jeder Krankentransport eine enorme Belastung und häufig bringt ein kurzer Spitalsaufenthalt mehr Nachteile als Vorteile. Daher wollen wir versuchen, Datensätze anstelle der Bewohnerinnen und Bewohner zu senden.“ So überzeugend die Idee klingt, so schwierig ist die Umsetzung in der Praxis, denn die Strukturen im Gesundheitswesen lassen das derzeit nicht zu.
Die anschließende Diskussion der Expertinnen und Experten fokussierte auf den Herausforderungen und Potenzialen von Innovationen, im Kontext von Datenschutz, Regulierung und technologischen Fortschritten in Europa. Strenge Datenschutzgesetze in Europa hemmen die schnelle Umsetzung von innovativen Lösungen. Start-ups gelten als agile Treiber von Innovationen, während fehlendes Risikokapital, aber auch die Vollkasko-Mentalität in der Bevölkerung Innovationen erschweren. „Pilotprojekte, wie die Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) in Österreich, könnten als Modell für die Integration innovativer Technologien dienen“, ist Hayn überzeugt und weist darauf hin, dass bereits 2026 die ersten Anwendungen in die Erstattung kommen könnten. Einig sind sich die Expertinnen und Experten, dass Innovation ein Schlüssel ist, um die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen zu meistern.