Mut zum Experiment

Ökonomen richten ihren Blick immer auf die Ergebnisse in einem System und da schneidet Österreich in Fragen der Gesundheitsversorgung im europäischen Vergleich maximal mittelmäßig ab. Die Ursachen sind leicht erklärt und längst bekannt: Es hapert an den passenden Strukturen und Prozessen, der Input steht – gemessen am Outcome – längst in keinem vernünftigen Verhältnis mehr. Ärztemangel, lange Wartezeiten, volle Ambulanzen, Über- und Unterversorgung zur selben Zeit – all das ist Ausdruck ein- und desselben Problems: „Das System ist stark fragmentiert. Spitäler und niedergelassene Ärzte arbeiten völlig entkoppelt, das kann auf Dauer nicht funktionieren“, ist Dkfm. Dr. Guido Offermanns vom ­Institut für Unternehmensführung der Alpen-­Adria-Universität überzeugt und ergänzt: „Die Primärversorgung und die Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen müssen gestärkt werden. Hausärzte in einem Netzwerk oder Zentrum zusammenzuschließen, ist auf lange Sicht aber zu ­wenig.“

Gesundheit immer und überall

Nach wie vor landen viel zu viele Patienten in den Spitälern – dort, wo die Versorgung am teuersten ist und wo sie aufgrund ihrer Anliegen meist gar nicht hingehören. Eine hohe Bettendichte, lange Verweildauern im Spital und der 24-Stunden-Zugang zu den Ambulanzen werden von der Bevölkerung natürlich geschätzt, aber das führt weder zu besseren Ergebnissen – im Sinne mehr gesunder Lebensjahre – noch zu einer bedarfsgerechten Versorgung. Nur jene Patienten, die akut krank sind, gehören auch in die Akutspitäler. Alle anderen, die dort landen, profitieren überhaupt nicht davon. Das heißt, es braucht eine Abstimmung mit den vor- und nachsorgenden Einrichtungen“, so der Experte. Nur 10 % der Bevölkerung verursachen rund 80 % der Kosten im Gesundheitswesen. Eine mittlerweile dramatische Fehlversorgung ist die Folge und das, obwohl Österreich großes Potenzial für eine vernünftige Versorgung hätte: „Wir fahren mit dem Ferrari auf dem Feldweg“, ­vergleicht Offermanns. Viele PS, die wir nicht auf den Boden bringen und die schon gar nicht schneller ans Ziel führen. Eine Lösung wäre einfach, ist aber derzeit nicht in Sicht: „Wir brauchen mehr Experimentierfreudigkeit und den Mut, Prozesse neu zu denken und auszuprobieren“, fordert der Versorgungsforscher. Die erste und einzige Frage, um in diese Richtung zu denken, muss daher lauten: Wie können kranke Menschen besser versorgt werden? Die Antwort ist auch nicht neu: „Health in All Policies“ heißt die Antwort. „Gesundheit darf nicht nur in Angeboten der Akutversorgung gedacht werden, denn die hat lediglich einen Anteil von maximal 20% am Outcome der Gesamt­versorgung. Wir brauchen das Denken in gesundheitlichen Folgen zum Beispiel in der Arbeitswelt, im Wohnbau, in Schulen oder in der Bildung. Wenn Gesundheit als der wichtige Faktor bewertet wird, dann erfordert das Folgenabschätzungen in allen Politikbereichen“, ­betont Offermanns.

Health in All Policies
Die gesundheitspolitische Strategie „Health in All Policies“ – Gesundheit in allen Politikfeldern – zielt darauf ab, die Gesundheit und Lebensqualität der Bevölkerung nachhaltig zu fördern. Ausgangspunkt ist das Wissen, dass politische Maßnahmen nicht nur im Gesundheitswesen in direktem Zusammenhang mit der Lebensqualität der Menschen stehen. Auch wo und wie sie wohnen, welche Chance auf Bildung sie haben oder in ­welchem Umfeld und unter welchen Bedingungen sie arbeiten, muss berücksichtigt werden, wenn die Forderung lautet, dass Herr und Frau Österreicher noch viele gesunde Lebensjahre genießen können sollen.

Schluss mit dem Ressortegoismus

„Mit den Gesundheitszielen Österreich wollen wir die Lebensqualität aller Menschen in Österreich verbessern und damit zu mehr Wohlbefinden und Gesundheit beitragen. Dort, wo Menschen wohnen, lernen, arbeiten oder spielen, wird Gesundheit maßgeblich beeinflusst“ – so steht es in den vereinbarten Gesundheitszielen, die bis zum Jahr 2032 den Handlungsrahmen für eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik bilden sollen. „Diese Ziele sind so allgemein gehalten und orientieren sich nicht an den tatsächlichen Anforderungen im Detail“, kritisiert Offermanns und ergänzt: „Wir müssten feststellen, was von diesen Zielen tatsächlich beim Patienten spürbar ankommt, also Verbesserungen in der Versorgung bringt.“ Dazu ist es erforderlich, „alle Patienten“ in Zielgruppen zu unterteilen, zum Beispiel nach gewissen Diagnosen wie Krebs oder Diabetes. Für diese Teilzielgruppen sind passende Outcomes zu überlegen, die dann in allen Spitälern zu erfüllen wären. In einem weiteren Schritt ist dann zu klären, wie das Management dieser Zielgruppen zu organisieren ist, damit diese Ziele erreicht werden – egal ob im Spital, im niedergelassenen Bereich, in der Rehabilitation oder in der Prävention. Dass wir davon weit weg sind, liegt auf der Hand: „Patienten diffundieren ziellos durch das System und verursachen höhere Kosten als nötig“, sagt Offermanns.

Das Ende der Isolation

Mit althergebrachten Strategien können zukunftsweisende Prozesse vermutlich nicht neu aufgesetzt werden. Ein spannender Ansatz für konkrete Veränderungen ist die Verknüpfung von Zusammenarbeit und Wettbewerb gleichermaßen, die sogenannte Coopetition. „Wenn wir eine sichere, effektive, effiziente, personalisierte, zeitgerechte und gerechte Gesundheitsversorgung wollen, dann benötigt das ein Redesign der Versorgungsbereiche und -prozesse. Nur wenn auch messbare Ziele vorliegen, kann eine Steuerung und Erfolgskontrolle möglich werden“, beschreibt der Versorgungsforscher. Das scheitert aber schon allein in einer Expertenorganisation wie dem Krankenhaus an der Abstimmung dieser Ziele, denn der Arzt spricht über Einzelfälle, der Controller hat zahlenmäßig das große Ganze im Auge und der Krankenhausträger orientiert sich an politischen Vorgaben. „Künftig wird es erforderlich sein, die Ergebnisqualität, die Prozessqualität und die Strukturqualität gemeinsam zu verfolgen. Am Ende dürfen die wirklich kranken Menschen nicht allein gelassen werden. Wie das gelingen kann, zeigt zum Beispiel der Weg der Coopetition. Diese Form des sogenannten Kooperationswettbewerbes lässt Konkurrenz und Kooperation gleichermaßen zu“, so Offermanns. Unter der Beachtung der Patientenperspektive werden Mitbewerber wie etwa Spitäler in manchen Fällen zu Partnern. Sie verfolgen gemeinsame Ziele und sind dadurch besser aufgestellt, als wenn sie konkurrieren würden. Damit das gelingen kann, wäre zum Beispiel ein „Experimentierparagraf“ erforderlich, der den Akteuren diese Form der ­Zusammenarbeit auch in der Praxis – zumindest testweise – möglich macht. Wer im Gesundheitswesen Coopetition statt Isolation lebt, wird den Outcome jedenfalls langfristig verbessern können.

Gesundheitsziele
In Österreich sind zehn Gesundheitsziele formuliert, die in einem breit abgestimmten Prozess mit zahlreichen Vertretern aus Politik und Gesellschaft entwickelt wurden. Bis zum Jahr 2032 bilden sie den Handlungsrahmen für eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik.
Um die Gesundheit und die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen und den steigenden Kosten in der Gesundheitsversorgung entgegenzuwirken, sollen die Gesundheitsziele dazu beitragen, die Zahl der gesunden Lebensjahre zu erhöhen.
Seit Jänner 2013 entwickeln politikfeldübergreifend besetzte Arbeitsgruppen Strategie- und Maßnahmenkonzepte für die einzelnen Gesundheitsziele. Sie formulieren Wirkungsziele, klären die Verantwortlichkeiten, geben Zeitpläne zur Umsetzung der Maßnahmen vor und legen Indikatoren für die Überprüfung der Zielerreichung fest.
Das begleitende Monitoring überprüft, ob die geplanten Maßnahmen umgesetzt wurden.
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