Was bedeutet für Ihren Verband Versorgungssicherheit im Gesundheitswesen?
Auf die Schweiz bezogen und in einem Satz: Die Sicherheit, dass jeder Mensch in unserem Land jederzeit rasch mit den essenziellen Gütern von qualifizierten Fachpersonen medizinisch versorgt werden kann. Es geht um Güter einerseits und um Fachpersonen andererseits. Dabei bezieht sich die Sicherheit stets auf Verfügbarkeit, Menge, Vielfalt und Qualität.
Welche Rolle spielen dabei Medizinprodukte?
Eine zentrale Rolle. Medizinprodukte sind die Grundlage für eine erstklassige medizinische Versorgung. Es gibt mehr als 500.000 verschiedene Produkte, die in Spitälern, Arztpraxen und in der Pflege gebraucht werden. Besorgniserregend ist, dass sich europaweit ein Versorgungsproblem abzeichnet. Die Firmen reduzieren ihr Sortiment um durchschnittlich 15 Prozent, weil sich die Rezertifizierung gemäß der neuen EU-Medizinprodukteverordnung unternehmerisch nicht bei allen Produkten rentiert. In der Schweiz kommt erschwerend hinzu, dass zusätzlich Produkte fehlen, weil viele ausländische Hersteller nicht bereit sind, für den kleinen Markt Schweiz Sonderauflagen in Kauf zu nehmen. Die Schweiz ist daran, ihre Beschaffungsquellen zu diversifizieren.
Hat sich diese Sichtweise auf Medizinprodukte aufgrund der Pandemie verändert?
Auf jeden Fall. Masken, Spritzen, Kanülen und nicht zuletzt das weltberühmt gewordene Beatmungsgerät einer Schweizer Firma sind ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Medizintechnikbranche wurde von offizieller Seite als sogenannt systemrelevant eingestuft. Weiters wurde die Wichtigkeit der Digitalisierung im Gesundheitswesen offensichtlich. Die Pandemie lehrte uns zudem, wie zentral eine reibungslose globale Logistik ist. Die Kosten für Transport, Energieträger und Rohstoffe vervielfachten sich innerhalb kürzester Zeit. Rasch kam der Ruf, die gesamte Wertschöpfungskette wichtiger Güter zurück ins Land zu holen. Swiss Medtech unterstützt grundsätzlich andere Strategien – nicht Abschottung und Autarkie, sondern Offenheit und Diversifikation. Die Schweiz ist allein aufgrund ihrer Größe und Ressourcen – wie viele andere Länder auch – nicht in der Lage, sich selbst mit den benötigten Medizinprodukten zu versorgen. Wir sind auf den Import angewiesen. Wertmäßig importieren wir rund 50 Prozent der benötigten Medizintechnikprodukte.
Was verstehen Sie unter Offenheit und Diversifikation konkret?
Zum einen offene Märkte. Swiss Medtech setzt sich für den Abbau von Handelsrestriktionen ein. Wegen des Abbruchs der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) über ein institutionelles Rahmenabkommen im Mai 2021 ist der gegenseitige Handel mit Medizinprodukten nicht mehr barrierefrei. Es gibt jetzt unnötige bürokratische Hürden auf beiden Seiten. Die Schweiz und die EU täten gut daran, ihre Beziehung wieder auf eine solide Basis zu stellen. Zum anderen engagieren wir uns dafür, dass die Schweiz für die Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung nicht mehr exklusiv auf Medizinprodukte angewiesen ist, die der EU-Regulierung entsprechen. Die Schweiz sollte ihren Handlungsspielraum erweitern, also ihre Beschaffungsquelle diversifizieren. Das sieht auch das nationale Parlament so. Es hat der Schweizer Regierung im November 2022 den Auftrag erteilt, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass künftig auch Medizinprodukte außereuropäischer Regulierungssysteme in der Schweiz anerkannt sind, zum Beispiel von der FDA zugelassene Medizinprodukte.
Haben Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) das Potenzial, das Gesundheitssystem weiterzuentwickeln?
Nicht alle DACH-Länder verstehen unter dem Begriff Digitale Gesundheitsanwendungen das Gleiche. Ich beantworte die Frage bezogen auf digitale Technologien: Ja, auf jeden Fall, sowohl bezüglich Qualität als auch bezüglich Effizienz. Laut einer Studie von McKinsey und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich aus dem Jahr 2021 beträgt das Nutzungspotenzial aller Digitalisierungsmöglichkeiten im Schweizer Gesundheitssystem schätzungsweise 8,2 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr. Analysiert wurden drei digitale Kategorien: Erstens, Lösungen, Patienten direkt ins Gesundheitsmanagement einbeziehen. Zweitens, Lösungen, die sich hauptsächlich an Fachkräfte im Gesundheitswesen richten und auf die Effizienz des Anbieters abzielen. Und drittens, Lösungen, die alle Beteiligten und Prozesse im gesamten Ökosystem des Gesundheitswesens unterstützen.
Wo sehen Sie aktuell positive Entwicklungen, wenn Sie an Digitalisierung denken? Wo gibt es Hemmnisse?
In der Schweiz werden digitale Technologien in den Tarifsystemen bisher noch nicht adäquat abgebildet. Keiner der bestehenden Tarife vermag die komplexe Kostenstruktur digitaler Gesundheitsanwendungen sachgerecht abzubilden und damit eine angemessene Vergütung sicherzustellen. Darin sehe ich ein großes Hindernis. Wollen wir das Potenzial digitaler Medizinprodukte nutzen, muss auch deren Vergütung sichergestellt sein. Und zwar nicht nur für Zusatzversicherte, sondern für alle Grundversicherten. Deutschland verfügt über ein übergeordnetes Vergütungsmodell basierend auf dem Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG) und der Verordnung für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA-V). Dieses übergeordnete Vergütungsmodell könnte der Schweiz als Orientierung dienen. Allerdings sollten wir von den in Deutschland gemachten Erfahrungen lernen, das Modell weiterentwickeln und gegebenenfalls auch breiter definieren. Positiv werte ich, dass in der Schweiz endlich angekommen zu sein scheint, dass wir eine übergeordnete Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen brauchen, wenn unser Land nicht völlig ins Hintertreffen geraten soll.
Was muss aus Ihrer Sicht nun der nächste Schritt konkret sein, um das Thema Digitalisierung und Versorgungssicherheit besser zu verknüpfen?
Daten, Daten, Daten. Wenn der Bedarf an Gütern bekannt und ein sich anbahnender Versorgungsengpass rechtzeitig erkannt werden soll, müssen die entsprechenden Daten erfasst, verknüpft und ausgewertet werden können.