Trotz gleicher Diagnose reagieren Patienten oft ganz unterschiedlich auf identische Therapieansätze. Der individuelle Organismus der Kranken rückt deshalb bei der Wahl optimaler Behandlungsmethoden immer mehr ins Zentrum. Personalisierte Medizin sei der logische nächste Schritt in der Entwicklung der modernen Medizin, sagt Boris Bastian, Professor für Krebsbiologie der Universität von Kalifornien: „Wir starteten bei einer intuitiven Medizin. Dann gelangten wir zur Evidencebased Medicine, die Krankheiten nach auf statistischen Untersuchungen beruht. Aber wir wussten nicht, welcher Patient das sein würde. Jetzt kommen wir zu reproduzierbaren Prognosen.“
Erklärtes Ziel der personalisierten Medizin ist es, die individuellen Charakteristika einer Erkrankung bei einem bestimmten Patienten zu berücksichtigen. Das soll die Wirkung der Therapie steigern und Nebenwirkungen vermeiden helfen. In diesem Sinn ist personalisierte Medizin in ersten Ansätzen bereits Realität. Begonnen hatte es in der antiretroviralen Therapie bei HIV-Infektionen, wo zunehmend eine personalisierte Behandlung entwickelt wurde. Heute gibt es immerhin schon fünf verschiedene Wirkstoffklassen und rund 30 verschiedene Medikamente, die gegen HIV wirken.
Das Motiv der Personalisierung ist jedoch nicht nur für Arzneimittel interessant, sondern auch für Medizinprodukte. Zum einen sind Medizinprodukte erforderlich, um die personalisierte Medizin als unmittelbare Kombination aus Diagnostik und Therapie – „Theranostik“ – technisch zu realisieren. Zum anderen lässt sich die generelle Zielsetzung, die medizinische Therapie durch Patienten-individuelle Adaption effektiver und nebenwirkungsärmer zu gestalten, auch auf die Gestaltung medizintechnischer Komponenten, Geräte und Systeme übertragen. Innovative Medizinprodukte zeichnen sich hier durch einen signifi kanten Nutzen für den Patienten aus, sie sollten sicher und schonend in der Anwendung sein und dabei gleichzeitig effi zient. Im Unterschied zur Pharmakologie drückt sich jedoch die biologische Individualität eines Menschen aus dem Blickwinkel der Medizintechnik weniger auf der molekulargenetischen, sondern eher auf der anatomischen, physiologischen und zum Teil auch auf der zellulären Ebene aus. Hierfür gibt es eine Vielzahl an Beispielen, etwa autologe Bioimplantate, individualisierte Verfahren und Technologien für die bildgeführte Intervention oder auch telemedizinisches Patientenmonitoring.
Der Bereich der Biomarker stellt in Verbindung mit den zentral bzw. dezentral am „Point of Care“ einsetzbaren invitro- diagnostischen Technologien das unmittelbare Bindeglied zwischen personalisierter Medizin und personalisierter Medizintechnik dar. Insbesondere bei der Verwendung autologer – also körpereigener – Zellen oder Gewebe sind Bioimplantate eine Form hoch individualisierter und damit „maßgeschneiderter“ Medizinprodukte.
Biomarker sind unter anderem für die bildgebende Diagnostik von großer Bedeutung. So können bei den bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografi e (MRT) und der Positronenemissionstomografie (PET) die verwendeten Kontrastmittel mit Biomarkern gekoppelt werden, was die Leistungsfähigkeit der Bildgebung signifikant erhöht.
Mit generativen Fertigungstechnologien – einer Art „individualisierte Massenfertigung“, die differenzierte Automatisierungsprodukte liefert – lassen sich etwa unter Verwendung bildgebender Verfahren bereits Prothesen maßfertigen. So kann zum Beispiel mittels CT- und MRT-Daten ein individuelles Modell des Kniegelenks erzeugt werden, das dann zur Anfertigung einer personalisierten Prothese dient. Neben einer höheren Passgenauigkeit kann durch die präoperative Navigation auch die Operationszeit verkürzt werden.
Eine solche neuartige Prothese haben Ingenieure des Fraunhofer IPA gemeinsam mit der Firma Gottinger GmbH entwickelt. Anstelle der aufwendigen Anprobe am Patienten werden die erforderlichen Daten und individuellen Maße direkt am Computer generiert und anschließend in die Konstruktion integriert. Erste Patienten testen bereits die Beinprothese.
Schon weiter sind die Forscher bei der Entwicklung von medizinischen Bioimplantaten. Sie arbeiten dabei in drei Stoßrichtungen: die Biofunktionalisierung von technischen Oberflächen mithilfe von Biomolekülen, die Biologisierung von technischen Implantaten und die Entwicklung vollständiger, in der Regel körpereigener, biologischer Implantate. „In allen Fällen wird über die Verwendung der biologischen Schnittstelle ein hohes Maß an spezifischer Adaption an den Patienten und damit an Individualisierung erzeugt“, schreibt Dr. Cord Schlötelburg, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik im VDE (Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik), im deutschen Fachmagazin E-HEALTH-COM. Die Vorteile gegenüber rein technischen Implantaten sind vor allem verbesserte immunologische Eigenschaften und eine insgesamt höhere Biokompatibilität. Einige solcher Bioimplantate haben inzwischen den Einzug in die klinische Therapie vollzogen. Hierbei handelt es sich zumeist um einfache Zell- bzw. anspruchslose Gewebeimplantate wie Knorpel- und kleinere Knochenimplantate. Die Forscher des Fraunhofer-Instituts für Lasertechnik arbeiten inzwischen bereits an der nächsten Generation künstlicher Knochen, an resorbierbaren Implantaten. Die abbaubaren künstlichen Knochen regen die Regeneration des Körpers an. Dabei durchziehen feine Kanäle das Implantat und schaffen so eine Gitterstruktur, in die der angrenzende Knochen hineinwachsen kann. „Das Grundgerüst der Ersatzknochen besteht aus dem Kunststoff Polylactid“, erläutert Projektleiter Simon Höges: „Darin eingelagerte Körnchen aus Tricalciumphosphat sorgen für Festigkeit und regen den natürlichen Knochenheilungsprozess an.“ Das Material lässt sich allerdings nur dort einsetzen, wo es nicht zu stark belastet wird, etwa im Gesichts-, Kiefer- und Schädelknochenbereich. Damit können derzeit bis zu 25 Quadratzentimeter große Lücken geschlossen werden. Die Arbeitsabläufe von den CT-Aufnahmen über die Konstruktion des Implantats bis hin zu seiner Fertigung sind so aufeinander abgestimmt, dass sich Ersatz für ein defektes Jochbein in wenigen Stunden und ein fünf Zentimeter großes Schädelstück über Nacht herstellen lassen.
All diese bahnbrechenden Entwicklungen im Bereich der personalisierten Medizintechnik stellen enorme Anforderungen an die IT. Die Zusammenführung, Aufbereitung und qualitative Verwertung sämtlicher verfügbarer Patientendaten in ein patientenspezifisches Modell ist Voraussetzung, um ein möglichst detailliertes und exaktes Abbild des Patienten am PC zu konstruieren, das dann dem Arzt als Ausgangspunkt für Diagnose und Therapie dient.