Gabriele Wiederkehr, DGKS, freiberufliche akademische Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege sowie Mitgründerin und Vorsitzende der ARGE Freiberufliche Pflege im Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV), gibt Einblick in Berufsfelder und Herausforderungen der freiberuflichen Pflege.
Im ersten und leider auch letzten Pflegebericht des Bundesministeriums für Gesundheit im Jahr 2006 wurde formuliert, dass „keine Datengrundlagen zur Anzahl freiberuflich tätiger Pflegepersonen“ in Österreich existieren. In Wien waren im Jahr 2013 exakt 5.291 freiberufliche Pflegefachkräfte laut Wiener Landessanitätsbehörde gemeldet. Viele davon üben jedoch keine freiberufliche Tätigkeit aus oder nicht mehr. Da es kein Berufsregister gibt, ist der Markt weder zu erfassen noch zu steuern und eine Qualitätskontrolle fehlt. Österreichweit sind geschätzte 15.000 Personen freiberuflich gemeldet.
Die Aufgabenfelder des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege sind vielfältig. Es gibt Pflegeexperten in Fachgebieten wie Hygiene, Wundmanagement und Ernährung oder Sachverständige für Gesundheits- und Krankenpflege zur Pflegegeldeinstufung. Aber auch im Case- und Caremanagement sind sie etwa in der Angehörigenschulung oder der mobilen Hauskrankenpflege spezialisiert. In meinem Fall ist es das Aufgabenfeld der Lehre von komplementären Pflegekonzepten der Gesundheits- und Krankenpflege in einer Weiterbildung gemäß § 64 GuKG „Therapeutische Berührung“ sowie die praktische Umsetzung an Klienten.
Spannende und ausbaubare Gebiete liegen aus meiner Sicht im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der freiberuflichen Pflegeforschung, Public Health und der Pflegeberatung. Eine Kollegin in Salzburg bekommt Klienten vom Jugendamt überwiesen und betreut Mütter und Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen zu Hause.
Ja, prinzipiell kann jeder DGKP sofort nach der Diplomierung oder dem erlangten Bachelor of Nursing in Health Studies die Freiberuflichkeit melden und zu arbeiten beginnen. In Spezialrichtungen sind die Zusatzausbildungen wie Lehre, Management, Intensivausbildung erforderlich und fachspezifische Weiterbildungen gemäß § 64 GUKG im jeweiligen Angebotsgebiet empfohlen. Derzeit ist das nicht überprüfbar. Im GuKG ist eine mindestens 40 Stunden umfassende Fortbildung in fünf Jahren gesetzlich geregelt. Auch das kann am freiberuflichen Markt derzeit nicht kontrolliert werden. Im Herbst wird voraussichtlich ein Berufsregister über die Arbeiterkammer starten, dann wird sich die Sachlage ins Positive verändern. Ungeklärt ist, ob die freiberuflichen Pflegekräfte einen Arbeiterkammerbeitrag für das Berufsregister zu zahlen haben, im Unterschied zu den unselbstständigen Kollegen.
Der Änderung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) mit dem Ziel, einen bundesweiten Gesamtvertrag zwischen dem ÖGKV und dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger zur Finanzierung von freiberuflich und ambulant erbrachten Pflegeleistungen zu ermöglichen. Der ÖGKV könnte als freiwillige berufliche Interessenvertretung Partner eines Gesamtvertrages mit dem Hauptverband sein. Dazu benötigt es für den ÖGKV eine Legitimierung von der zuständigen Bundesministerin für Gesundheit, diese Gesamtverträge abzuschließen. Es fehlt sowohl im GuKG als auch im ASVG die gesetzliche Grundlage.
Ebenso stehen wir vor der Herausforderung der Erstellung eines Leistungskataloges mit Richtwerten zu Pflegetarifen inklusive jährlicher Aktualisierung. Dies sollte auch das Gesundheitsministerium an eine kompetente Arbeitsgruppe in Auftrag geben.
Das österreichische Sozialversicherungssystem ist aktuell noch von einem grundsätzlichen pathogenetisch spitalslastigen Gedanken geprägt. Es benötigt längst eine Neudefinition der gesetzlichen Zielsetzung der Krankenversicherung hin zum salutogenetisch, also gesundheitsförderlichen, interprofessionellen Gemeinschaftspraxen, geleitet von Pflegefachkräften und dafür eine „Gesundheitsversicherung“.
Eine weitere Schwachstelle ist der zukünftig zu erwartende Fachkräftemangel. Der Beruf ist wenig attraktiv und schlecht bezahlt für ein hohes Maß an Umgang mit Schmerz und Leid. Aufgrund der steigenden Zahlen der Pflegebedürftigen und der sinkenden Möglichkeiten der Angehörigen werden in Österreich 22.500 Vollzeitkräfte bis 2025 mehr benötigt.
Wir decken derzeit die Fachpflege durch teils unprofessionelle 24-Stunden-Betreuer ab – 95 % davon sind Frauen. Heute haben 58.456 selbstständige Betreuer einen österreichischen Gewerbeschein. Mehr als die Hälfte davon kommt aus der Slowakei, knapp gefolgt von Rumäninnen. Die Förderungen, die das Sozialministerium dafür an die Familien ausschüttet, sind rasant gestiegen: Von neun Millionen im Jahr 2008 auf 125 Millionen im Jahr 2014.
Der österreichische Staat gibt monatlich 550 bis 1.100 Euro in die Hände der Familien und Betroffenen, damit komplexe Krankheitsbilder, Demenz, Isolation und familiäre Konflikte an osteuropäisches Personal mit wenig Deutschkenntnissen und keiner fachpflegerischen Kompetenz überantwortet wird. Derzeit gibt es kein besseres Modell für Pflegegeldbezieher in Österreich als die Unterstützung durch 24-Stunden-Betreuung. Mir fehlt die Bereitschaft für eine Finanzierung des Einsatzes von geschulten freiberuflichen Pflegefachkräften zur Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle für die 450.000 Österreicher, die Pflegegeld beziehen. Es fehlt auch an alternativen Zeitmodellen, beispielsweise 6-, 10- oder 12-Stunden-Modelle als Alternative zu der 24-Stunden-Betreuung.
Die ÖGKV ARGE Freiberufliche Pflege strebt eine direkte Pflegeleistungsverrechnung mit den Krankenversicherungsträgern von der derzeit auf ärztliche Anordnung ausgerichteten medizinischen Hauskrankenpflege auf die vielfältigen Kompetenzen und Fertigkeiten der Gesundheits- und Krankenpflege laut GuKG § 14 – 26 an.
Dazu zählen neben den Basiskompetenzen des eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereiches §14 GuKG auch der mitverantwortliche §15 und §16 interdisziplinäre Tätigkeitsbereich, insbesondere die Gesundheitsförderung und Beratung und der gesamte erweiterte und spezielle Tätigkeitsbereich wie Spezialaufgaben wie Intensivpflege, Anästhesiepflege, Pflege bei Nierenersatztherapie, im OP, Kinder- und Jugendlichenpflege, psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflege sowie die Lehr- und Führungsaufgaben.
Dazu benötigt es einen bundesweiten Vertrag zwischen dem ÖGKV und dem Hauptverband, der über die Leistungen der derzeit nur verrechneten Leistungen der medizinischen Hauskrankenpflege hinausgeht. Dazu sind jedoch ASVG- und GUKG-Gesetzesnovellierungen nötig.
Ein bundesweiter Leistungskatalog inklusive Auflistung der Kosten sollte längstens existieren. Noch zahlt die Sozialversicherung lieber den ärztlichen Leistungskatalog ab, Pflege existiert nur als Randerscheinung, obwohl sie den mitverantwortlichen Tätigkeitsbereich längst übernimmt. Diplomierte freiberufliche Pflegefachkräfte sollen durch einen vereinbarten Gesamtvertrag die Möglichkeit einer direkten Leistungsverrechnung mit der Krankenversicherung erhalten.
Abgesehen von den Gesamtverträgen mit der Sozialversicherung benötigen wir die rasche Umsetzung des Berufsregisters sowie einen bundesweiten oder noch besser EU-weiten Berufsausweis mit Auflistung aller anerkannten Zusatzausbil
dungen und gesetzlich geregelten Fortbildungsstunden. Wir erwarten seit Jahren die diskutierte Verordnungskompetenz durch Pflegefachkräfte für pflegespezifische Hilfsmittel und Heilbehelfe wie Gehhilfen, Wundauflagen, Inkontinenzprodukte oder Stomabehelfe.
In der Gesellschaft sollte mehr mediale Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit über das Aufgabengebiet der professionellen Fachpflege geschehen, damit unter anderem endlich zwischen 24-Stunden-Betreuung und Pflege unterschieden wird.
Weiters sind niederschwellige Gemeinschaftspraxen aufzubauen, um mittels interprofessioneller Zusammenarbeit anerkannter Gesundheitsberufe für die Bevölkerung eine ökonomische und zeitgemäße Versorgung anzubieten. Die vom Bundeszielsteuerungskatalog des BMG angestrebte Primärversorgung und das geplante Primary Health Care System dürfen nicht die ärztlichen Leistungen in den Mittelpunkt stellen, sondern benötigen eine ausgewogene Darstellung und Zusammenarbeit des multiprofessionellen Teams der zukünftigen Bachelors of Nursing Science, der Pflege- und Ordinationsassistenten sowie der Vertreter der ärztlichen Berufe zum Wohle und zur Stärkung der Gesundheit der Menschen.