Pflege zwischen Wissenschaft und Praxis

Wissenschaftliches Arbeiten in der pflegerischen Praxis – kann das denn funktionieren? „Sehr wohl“, sind sich ein Wissenschaftler und eine Stomatherapeutin einig und referierten darüber beim Pflegesymposium „Pflege rund um die Chirurgie“ kürzlich in Salzburg. Ob nach einer Tumoroperation oder bei entzündlichen Darmerkrankungen, es gibt viele Menschen, die mit einem künstlichen Darmausgang leben müssen. Ein Stoma anzulegen ist eine Sache, postoperative Schulung die andere. Letztere obliegt dem Pflegepersonal oder vielmehr Fachschwestern für Kontinenz- und Stomaberatung (KSB). Karin Meyer von der Stomaambulanz am Klinikum Klagenfurt ist eine davon: „Beratung und Schulung zielen darauf ab, den Patienten eine Selbstpflegekompetenz zu vermitteln, sodass sie ihren Alltag möglichst problemlos bewältigen können.“
Stomatherapeuten verfügen durch Erfahrung und Weiterbildung über ein spezielles Fachwissen, aber auch über einen hohen Anteil an sogenanntem Alltagswissen. Im Gegensatz zum Wissenschaftswissen werden Kenntnisse aus der Praxis jedoch nur selten in Forschungsarbeiten erfasst: „Generell wird die Pflegewissenschaft den Sozial- und nicht, wie etwa die Medizin, den Naturwissenschaften zugeordnet. Forschung im Pflegebereich hat zwar einen anderen Blickwinkel, ist aber genauso wichtig“, weiß Mag. Stephan Loidl, der fünf Jahre in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagenforschung und als Universitätslektor an der Wirtschaftsuniversität Wien tätig war, bevor er 2010 die Gesellschaft für betriebswirtschaftliche Forschung und Lehre in Mödling gründete.
Es gehe bei der qualitativen Forschung im Pflegebereich nicht darum, Praktiker in große Studien hineinzujagen, sondern anhand von Fallbeispielen und mittels Befragung, Beobachtung oder Experimenten Sachverhalte im eigenen Wirkungsbereich strukturiert und nachvollziehbar zu erheben. „Das ist vor allem auch für verschiedenste Qualifizierungsmaßnahmen von großer Bedeutung und da speziell im Pflegebereich die Verpflichtung zur laufenden Fortbildung besteht, ist der Bedarf an eigener Forschungstätigkeit für Pflegekräfte sicherlich gegeben“, so Loidl.

Qualitative Stomastudie

Karin Meyer absolvierte den berufsbegleitenden Studienlehrgang „Pädagogik für Gesundheitsberufe“ an der FH Kärnten und entschied sich im Rahmen der Abschlussarbeit für den qualitativen Forschungsansatz der Befragung: „Es ging darum, herauszufinden, was sich Stomapatienten von den Pflegebeauftragten erwarten, damit sie im Alltag gut zurechtkommen. In einem ersten Durchlauf habe ich KSB-Fachschwestern befragt, was ihrer Meinung nach wichtig ist für die Patienten. Daraus leitete ich dann die Fragen für die qualitative Studie ab.“ Bei dem teilstandardisierten Fragebogen – die Fragen waren einheitlich formuliert und angeordnet, die Befragten konnten jedoch frei antworten – drehte sich inhaltlich alles um die Stomaversorgung, die der Patient selbst oder mit Unterstützung durchführt. Zum Beispiel: Wie gut kommen Sie mit Ihrem Stoma zurecht? Wie und wann soll eine Stomaberatung für Sie erreichbar sein? Macht es für Sie einen Sinn, wenn Sie in der Stomaversorgung geschult werden? Was bewirkt eine kontinuierliche Stomaberatung?
Erst nachdem sowohl ein Prätest mit einer KSB-Fachschwester als auch ein Prätest mit drei Patienten durchgeführt worden war, begann Meyer mit den Interviews für die qualitative Studie. „Im Zeitraum von einer Woche habe ich an drei unterschiedlichen Tagen mit drei Fachschwestern und mit zehn Patienten, die an fünf aufeinanderfolgenden Tagen zu mir in die Stomaambulanz kamen, gesprochen. Bei den Fachschwestern war es für mich sehr wichtig, dass sie schon sehr lange in diesem Bereich arbeiten und damit über ein breites Wissen verfügen“, so Meyer. Nach der Auswertung kristallisierten sich drei Aspekte heraus, auf die Stomapatienten besonders viel Wert legen: regelmäßige Einschulung, regelmäßige Kontrollen und ein einziger, konstanter Ansprechpartner.

Erfolgsstudie

Qualitative und quantitative Forschungsstrategien sind miteinander kombinierbar und ermöglichen aufeinander aufbauende Forschungsarbeiten. Loidl: „Die qualitative Arbeit bereitet die Grundlagen für ein bestimmtes Forschungsgebiet auf. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die daraus resultierenden Forschungsergebnisse zunächst für die untersuchten Einzelfälle gelten. Sie können aber in der Folge quantitativ überprüft werden.“ Meyer stellt dies mit ihrer Forschungsarbeit erfolgreich unter Beweis, immerhin mündet die von ihr durchgeführte qualitative Studie nun in eine quantitative Studie. Für Meyer ist wissenschaftliches Arbeiten in der Pflege jedoch in anderer Hinsicht von ebenso großer Bedeutung: „Die Ansprüche der Patienten und die Anforderungen an die Pflege werden immer größer. Das bedeutet in weiterer Folge, dass auch die Pflegekräfte mehr gefordert sind und dass sie somit über immer mehr Kompetenz in ihren alltäglichen Handlungen verfügen müssen.“ Allein: Es reicht nicht mehr aus, dass das Pflegepersonal über die nötige Praxis verfügt, das theoretische Wissen ist genauso ausschlaggebend. Auch dass das Pflegepersonal heutzutage über FH-Abschlüsse und andere Zusatzausbildungen verfügt, ist mittlerweile, wie bereits erwähnt, ganz normal. „Es muss aber auch im Bereich der Pflegewirtschaft immer mehr in die Richtung gehen, Praktiken zu hinterfragen, die tagtäglich angewendet werden. Der Aufwand dafür ist natürlich recht groß, doch wir müssen unser Wissen belegen können“, betont Meyer. Allerdings steht bis dato beispielsweise einschlägige Literatur im Bereich der Pflegewissenschaft noch in sehr geringem Ausmaß zur Verfügung – zumindest im deutschsprachigen Raum. Desgleichen sind pflegewissenschaftliche Zeitschriften eine Seltenheit.

Advanced Nursing Practice

Doch Lehrgänge, Studien und Literatur allein reichen nicht aus. Vielmehr fordern Pflegeexperten wie Meyer eine zunehmende Professionalisierung ihres Berufsstandes: „Natürlich geht es in unserem Job darum, Patienten zu pflegen – das steckt ja schon im Wort selbst klar und deutlich drinnen. Aber es gilt auch, Advanced Nursing Practice (ANP) voranzutreiben. Hier liegt ein breites Aufgabenspektrum, das uns zu mehr Eigenständigkeit führen wird und wodurch wir zu wahren Spezialisten werden können.“ Mit ANP wird die Praxis von akademisch ausgebildeten und praxiserfahrenen Pflegenden umschrieben, die in einem bestimmten Fachgebiet spezialisiert sind. Das Konzept der ANP stellt somit ein Bindeglied zwischen Pflegewissenschaft und Pflegepraxis dar, das sich zunehmend verbreitet und als ein zukunftsweisender Ansatz in der Gesundheitsversorgung betrachtet wird. Dass Pflegende dadurch Mitverantwortung übernehmen müssen, ist Meyer und ihren Kollegen sehr wohl bewusst: „Es braucht das gelebte Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis. Der Beruf soll akademisiert werden, aber wir wollen auch am Krankenbett bleiben.“