Resilienzfaktor und Beitrag zur Versorgungssicherheit

Primärversorgungseinheiten (PVE) sind moderne, interprofessionelle Gesundheits-Hotspots, die eine umfassende medizinische Grundversorgung bieten. Von Beginn an war die Idee, dass Patientinnen und Patienten von einer flexibleren Terminvergabe und kürzeren Wartezeiten profitieren sollen und damit auch zur Entlastung der Spitalsambulanzen beitragen können. Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin arbeiten mit anderen Gesundheitsberufen wie Pflegefachkräften, Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Psychologinnen und Psychologen oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zusammen – Vorteile, die eine PVE vor allem in der Betreuung von chronisch Kranken ausspielen kann. Für Ärztinnen und Ärzte sowie Gesundheitsberufe schaffen PVE vor allem attraktivere Arbeitsbedingungen, denn gerade junge Ärztinnen und Ärzte schätzen die Arbeit im Team und flexible Arbeitszeiten. Überall dort, wo Hausarztpraxen schwer nachzubesetzen sind, können gerade PVEs die medizinische Versorgung langfristig sicherstellen. Einblick in die aktuellen Herausforderungen und künftigen Entwicklungen der PVE-Landschaft gibt Dr. David Wachabauer, BScBScMSc, Abteilungsleiter für Primärversorgung und Versorgungskoordination in der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG).

Wo stehen wir aktuell mit der Primärversorgung in Österreich?
Primärversorgung umfasst nicht nur Primärversorgungseinheiten, sondern auch Einzelordinationen und Gruppenpraxen. Nach wie vor liegt der Fokus mit 84 % auf Einzelpraxen. 12 % der Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner arbeiten in Gruppenpraxen und 4 % in PVEs. Die Daten sind aus 2023, das hat sich mittlerweile ein wenig in Richtung PVE verschoben, doch es zeigt sich, dass unser System in der Niederlassung sehr stark auf die Einzelordination ausgerichtet ist.

Ist dieses Einzelkämpfertum resilient genug, um auch in Krisen die Versorgungssicherheit zu gewährleisten?
Während der Pandemie hat sich gezeigt, dass sich natürlich Einzelordinationen deutlich schwerer getan haben mit einer durchgängigen Versorgung. Personalknappheit im Krankheitsfall trifft diese Ordinationen natürlich weitaus stärker als eine PVE. Auch das Handling des Infektionsgeschehens ist in größeren Einheiten einfacher, etwa durch eine räumliche Trennung. Und selbst das Thema Impfen ist logistisch in größeren Einheiten leichter umzusetzen. Zusammengefasst kann man sagen, dass sich PVE als resilienter dargestellt haben als andere Organisationformen.

Welche Entwicklungen haben in den letzten Jahren zur Stärkung der Primärversorgung beigetragen?
Aktuell gibt es 84 Primärversorgungseinheiten in Österreich, mit einem deutlichen Ost-West-Gefälle, und es gibt eine Reihe von Argumenten, die Primärversorgungseinheiten zu stärken. Wir sehen zum Beispiel, dass tendenziell junge Ärztinnen und Ärzte diese interprofessionelle Teamarbeit sehr schätzen. Das macht auch die Versorgung der Patientinnen und Patienten attraktiv: An einem Standort werden mehr Leistungen geboten, und zwar nicht nur ärztliche Leistungen. Ein wesentlicher Grundstock ist die soziale Arbeit, die in fast allen Bundesländern auch finanziert wird. Auch Diätologinnen und Diätologen können ohne PVE keinen Kassenvertrag bekommen, während sie hier über die e-card abgerechnet werden.

Wie wird die Primärversorgung in Österreich gefördert?
„Attraktivierung und Förderung der Primärversorgung“ ist ein Projekt im Rahmen der Recovery and Resilience Facility der EU. Damit werden die EU-Mitgliedstaaten dabei unterstützt, die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie abzufedern sowie Europa nachhaltig zu stärken und resilienter zu gestalten. Ein Teil davon ist das Projekt zur Stärkung der Primärversorgung, das einerseits die Plattform Primärversorgung (www.primaerversorgung.gv.at) und andererseits umfangreiche Förderungen beinhaltet. Die Fördermittel sollen dafür verwendet werden, innovative Versorgungsmodelle zu unterstützen. Insgesamt stehen für dieses Projekt 100 Millionen Euro zur Verfügung. Das Projekt und die damit verbundenen Förderungen laufen bis 2026. Im Rahmen der Plattform Primärversorgung vernetzen wir die Community und bieten mit dem PVE-Accelerator spezifische Unterstützungangebote für Gründerinnen und Gründer. Auf der PVE-Landkarte finden sich tagesaktuell alle bestehenden PVE sowie weitere Informationen.

Erwarten Sie mit dem Facharzt bzw. der Fachärztin für Allgemeinmedizin im Hinblick auf die Primärversorgung Änderungen?
Der Facharzt oder die Fachärztin für Allgemeinmedizin ist auch Familienmedizinerin oder -mediziner und das Thema wird in naher Zukunft vermutlich noch stärker in den Mittelpunkt rücken. Grundsätzlich ist die Hoffnung jedenfalls vorhanden, dass der Facharzttitel zu einer gewissen weiteren Attraktivierung beiträgt – am Ende ist es aber immer ein Blumenstrauß an Maßnahmen, um die Allgemeinmedizin nachhaltig zu attraktivieren.

PVE sollen zur Entlastung der Spitäler beitragen. Wie realistisch ist es, dass sie das auch leisten können, wenn sich die Strukturen nicht ändern?
Wir haben in Österreich kein Gatekeeping-System zur Steuerung von Patientinnen und Patienten, daher ist es umso wichtiger, klar zu kommunizieren, dass die erste Anlaufstelle im System die Primärversorgung, und hier vor allem die allgemeinmedizinische Versorgung, ist. Im Optimalfall können möglichst viele der Betroffenen dort abschließend behandelt werden und werden nicht weiterüberwiesen. Das geht in einer PVE aufgrund der Teamstruktur und der vielen Berufsgruppen einfacher als in anderen Organisationsformen. Evaluierungen in den Bundesländern zeigen, dass es diese Effekte bereits gibt.

Welche Rolle können 1450 und Telemedizin spielen?
Wir hoffen, dass wir durch 1450 und die verstärkte Nutzung von Telemedizin einen Teil der Patientinnen und Patienten gar nicht erst in die Ordinationen leiten müssen. Wie sich gezeigt hat, hätte das nicht nur Ressourcenvorteile, man könnte etwa auch das Infektionsgeschehen besser in den Griff bekommen. Die Primärversorgung muss auf jeden Fall ausgebaut werden, vor allem im ländlichen Bereich. Das heißt nicht, dass es immer ein Zentrum sein muss, es könnten auch Primärversorgungsnetzwerke von Einzelordinationen sein.

Wie wird es mit der aktuellen Gründungsdynamik weitergehen?
Die Österreichische Gesundheitskasse möchte 300 PVE, in den regionalen Strukturplänen Gesundheit sind bis 2025 133 PVE verankert. Die Wahrheit wird dazwischen liegen.