Revolution in der Prothesenforschung

Der seit 2012 an der Fakultät für Gesundheit und Soziales der FH Oberösterreich tätige Professor für Prothetik Dr. Hubert Egger, der bereits an der Entwicklung eines Prototyps der gedankengesteuerten und fühlenden Armprothese maßgeblich beteiligt war, hat nach jahrelangen Forschungsstudien nun erstmals erfolgreich einem Menschen eine fühlende Beinprothese angepasst.
Egger hat dafür einen bereits länger verfügbaren, mikroprozessorgesteuerten Hightech-Prothesenfuß aus Karbon mit auto­adaptivem Gelenk verwendet und diesen zusätzlich mit sechs Drucksensoren im Fersen-, Mittel- und Vorfuß- sowie im Zehenbereich ausgestattet. Damit stellt die Prothese – ähnlich wie ein gesunder Fuß – den unmittelbaren Kontakt zum Boden her. „Sobald der Patient mit der Sohle den Boden berührt und den Fuß beim Gehen am Boden abrollt, nehmen die Sensoren die Druckbewegung auf“, erläutert Egger seine Entwicklung. Die elektrischen Signale werden verstärkt, weitergeleitet und bringen Stimulatoren im Schaft der Prothese zum Vibrieren, und zwar genau an der Stelle, an der die Chirurgen zuvor die „Fußnerven“ auf die Haut des Stumpfes verlegt haben. Diese senden entsprechende Informationen an das Gehirn weiter: Jetzt hat die Ferse Kontakt mit dem Boden! Jetzt findet die Abrollbewegung statt! Und so weiter. Das Gehirn bekommt auf diese Weise wieder reale Informationen aus der Umwelt, der Patient damit das Gefühl, „sein Bein zu haben“.
Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes „Fühlende Beinprothese“ der FH Oberösterreich mit der Universitätsklinik Innsbruck wurden die Auswirkungen der neuen Prothese an einem aus Oberösterreich stammenden Patienten wissenschaftlich untersucht. Bei Wolfgang Rangger, der 2007 sein Bein verloren hatte, wurde im Oktober 2014 im Rahmen eines chirurgischen Eingriffs an der Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie in Innsbruck ein selektiver Nerventransfer (Targeted Sensory Reinnervation, TSR) durchgeführt. Ziel des Eingriffs war es, Nervenenden als Überträger sensorischer Informationen von künstlichen Sensoren aus der Fußprothese zu reaktivieren. Aufgrund der entstehenden neuronalen Verbindung zwischen Prothese und sensorischem Nervensystem erkennt der Patient die Beschaffenheit des Bodens sowie Hindernisse besser. Damit wird nicht nur die Sturzgefahr beim Gehen reduziert, der wiederhergestellte Informationstransfer trägt auch zur natürlicheren Integration der Prothese in das Körperbild des Patienten bei. „Der Patient empfindet die Prothese nicht mehr als gefühllose Gliedmaße, sondern als Teil seines Körpers“, sagt Egger.

 

 

Targeted Sensory Reinnervation

Eine weitere Indikation bestand darin, schmerzhafte Nervennarben durch die Umleitung der Nerven positiv zu beeinflussen. „Bei Menschen mit Gliedmaßen-Amputationen sind somatosensorische Nerven abgetrennt“, erklärt Dr. Eva-Maria Baur, die gemeinsam mit Dr. Thomas Bauer den chirurgischen Eingriff in Innsbruck durchgeführt hatte. „Obwohl die im Körper verbleibenden Nervenreste intakt sind, nehmen sie keine Informationen mehr auf. Am Nervenende bildet sich eine häufig schmerzhafte Nervennarbe, ein Neurom. Innerhalb der kortikalen Repräsentanz des betroffenen Gliedes kommt es durch das Fehlen der sensorischen Information zu einer Art Überkompensation mit im Gehirn autonom generierten Signalen, die zu Phantomschmerzen führen können.“
Im konkreten Fall erregen sechs an der Hautoberfläche platzierte Stimulatoren (künstliche Reizgeber) die Rezeptoren gemäß dem Muster der momentanen Druckverteilung an der Sohle der Fußprothese. Die auf diese Weise in den Nervenenden erzeugten elektrischen Signale werden zum Gehirn geleitet und stellen somit „reale“ Informationen des Fußes dar, die nicht mehr von autonom generierten Signalen kompensiert werden müssen.
Das Studienergebnis habe deutlich gezeigt, so Baur, dass mit der Methode der Targeted Sensory Reinnervation das Leben von Menschen mit Amputationen deutlich erleichtert werden könne.

Ethische Verantwortung der Forschung

Auf Basis der positiven Studienergebnisse hat sich Egger nun das Ziel gesetzt, die von seinem Team entwickelte innovative Prothetik-Technologie zukünftig einem möglichst breiten Patientenkreis leistbar zugänglich zu machen. Er spricht von einer „ethischen Verantwortung“, Menschen mit Prothesen zu versorgen, die diese brauchen. „Arm- und Beinprothesen müssen für alle zugänglich sein, weltweit, auch und vor allem in Schwellenländern und Kriegsregionen. Wir müssen gerade auch die Länder unterstützen, die sich eine solche Forschung nicht leisten können.“ Der Standard in der Prothesenversorgung hinke im Vergleich zu anderen Lebensbereichen hinterher. Nur wenige Menschen könnten sich eine Hightech-Versorgung leisten. In Schwellenländern und Entwicklungsländern finde man noch immer Menschen mit Amputationen, darunter Kinder, die unversorgt sind. Das müsse sich ändern, findet Egger. Es gehe hier schließlich nicht um einen Consumer- oder Unterhaltungsartikel.
Egger will nun die Forschung vorantreiben, um möglichst bald einen Industriepartner zu finden, der den Prototyp entsprechend weiterentwickelt und daraus ein serienreifes Produkt macht. Dafür wollen Egger und sein Team ihr Wissen der Industrie frei zur Verfügung stellen, in erster Linie heimischen Mittelbetrieben. „Gerade junge Unternehmen sollen dadurch die Möglichkeit haben, ohne besondere Hürden auf diesem Marktsegment tätig zu werden“, wünscht sich Egger. „Wir hoffen, dass möglichst viele Unternehmen die Technologie umsetzen, damit sich möglichst viele Betroffene zukünftig so eine Prothese leisten können.“ Seine Vision sei, dass das eines Tages so selbstverständlich werde wie heute eine Brille zur Korrektur der Fehlsichtigkeit. Auch diese sei noch vor einem Jahrhundert nur einem elitären Kreis zugänglich gewesen. „Es muss gleichermaßen zur Selbstverständlichkeit werden, dass Menschen mit Hightech-Arm- und Beinprothesen versorgt werden, um sie weitgehend mobil und unabhängig von fremder Hilfe machen.“