Die Kosten im Gesundheitswesen steigen seit Jahren stetig an. Welche Faktoren sehen Sie als Haupttreiber dieser Entwicklung und wie geht die SVS damit um?
Lehner: Wir orten eine überaus hohe Inanspruchnahme der Leistungen, verbunden mit einer reduzierten Gesundheitskompetenz. Das fordert das Gesundheitssystem enorm. Versicherte erwarten von den Ärztinnen und Ärzten sowie den Sozialversicherungen ein „Rundum-Sorglos-Paket“. Die Eigenkompetenz und die Eigenvorsorge werden oft auf das Solidarsystem ausgelagert.
Gibt es Maßnahmen, die Gesundheitskompetenz zu verbessern?
Als SVS bemühen wir uns zum Beispiel durch unsere Vorsorgeprogramme, wie etwa aktuell mit „Gemeinsam gegen Krebs“, der größten Krebsvorsorge-Aktion Österreichs. 1,3 Millionen SVS-Versicherte werden mit einem 100-Euro-Bonus motiviert, die angebotenen Krebsvorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen. Aber Gesundheitskompetenz muss schon viel früher ansetzen, am besten im Kindergarten. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe und nicht allein eine Aufgabe der Sozialversicherung.
Gibt es spezifische Bereiche, wo die Ausgaben ganz besonders stark steigen?
Am stärksten steigt die ärztliche Leistung, die in den Jahren 2019 bis 2025 um 55,9 % angestiegen ist – das hängt auch unmittelbar mit der Demografie zusammen, die dazu führt, dass die Nachfrage nach Leistungen zunimmt. Heilmittel sind im selben Zeitraum um 43,3 % und die Überweisung an Krankenanstalten um 34,9 % gestiegen. Dieser letzte Punkt ist für uns nicht veränderbar, das ist leider auch im Finanzausgleich nicht gelungen. Auch die Steuerungsinstrumente versagen, um Patientinnen und Patienten dorthin zu leiten, wo sie bestmöglich und am effizientesten versorgt werden. Dieser Best Point of Service ist in vielen Fällen nicht das Spital. Wir haben einen hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten, deren erster Weg fast immer ins Spital führt, weil sie das aus ihren Heimatländern so kennen.
Welche Strategien setzen Sie ein, um die Kosten einzudämmen?
Ein wesentlicher Schlüssel ist die Transparenz. Wir haben einen Selbstbehalt und unsere Versicherten haben daher tendenziell ein besseres Kostenbewusstsein. Sie sehen auf ihren Abrechnungen sehr genau, was die Leistungen, die sie in Anspruch nehmen, kosten. Das schafft Bewusstsein und trägt auch zur Patientensteuerung bei.
Ergänzend dazu haben wir auch ein Bewilligungssystem, zum Beispiel im Reha-Bereich, aber auch MRT-Untersuchungen unterliegen einer Bewilligungspflicht. Es ist immer abzuklären, ob diese Maßnahmen auch eine therapeutische Konsequenz haben, ansonsten werden sie nicht bewilligt.
Gibt es derzeit Programme oder Initiativen, wo Sie signifikante Einsparungen erwarten?
Bei allen Digitalisierungsthemen, die den gesamten Workflow innerhalb der SVS betreffen. Das hat dazu geführt, dass wir im Jahr 2020 die Sparte Unfallversicherung übernehmen konnten, ohne eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter zusätzlich aufnehmen zu müssen. Auch mit dem e-Rezept oder digitalen Wahlarztrechnungen haben wir enorme Einsparpotenziale realisiert.
Werden Leistungen angepasst, um die Kosten zu senken?
Wir wollen uns weiterentwickeln, daher kommt eine Leistungseinschränkung nicht infrage, jedoch wollen wir zum Beispiel mithilfe von Innovationen steuern. Dazu haben wir etwa im österreichweit einheitlichen Gesamtvertrag die Sonografie für Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner vorgesehen, um ganz bewusst die Patientinnen und Patienten vom Spital und vom Facharzt- in den allgemeinmedizinischen Bereich zu lenken.
Das setzt aber voraus, dass die Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner über die Medizintechnik verfügen?
Ja, und sie brauchen auch die entsprechende Ausbildung dazu. Da fordern wir auch unsere Vertragspartnerinnen und -partner, um nicht nur Tarife anzupassen, sondern auch Innovationen umzusetzen und Leistungen anzubieten.
Sind höhere Selbstbehalte für die Versicherten ein Thema?
Nein, im Gegenteil, wir bekennen uns zu den Varianten der Reduktion der Selbstbehalte durch entsprechende Vorsorgeuntersuchungen. Unsere Beitragsgrundlage ist vom Einkommen der Versicherten abhängig und der Mindestbeitrag der Krankenversicherung sind 37 Euro im Monat, der Höchstbeitrag liegt bei ungefähr 440 Euro. In dieser Spanne ist die Solidarität abgebildet. Alle bekommen die gleiche Leistung und das ist in Österreich ein unglaublich hohes Gut, das wir nicht gefährden dürfen. Wir bekennen uns zum Solidarsystem und zu einem kostenbewussten Umgang mit den finanziellen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, damit das System auch nachhaltig funktioniert.
Welche Möglichkeiten haben innovative Medizinprodukte, in die Erstattung zu kommen?
Wir nutzen gemeinsam die Expertise der Innovationsabteilung im Dachverband der Sozialversicherungsträger und das Kompetenzcenter „Hilfsmittel“. Entscheidend ist immer die Frage, ob es entsprechende Evidenz gibt und ob mit den Innovationen auch die Effizienz verbessert werden kann. Das heißt aber auch, dass es die zufriedenen Versicherten braucht. Gleiches gilt für die Apps auf Rezept, hier gibt es Pilotprojekte und wenn die Evidenz überzeugt, werden die Produkte in die Erstattung übernommen, natürlich mit einem Hauptaugenmerk auf dem Schutz der gesundheitsbezogenen Daten.
Welchen Wunsch richten Sie an die Medizinprodukt-Branche?
Ich denke, dass ein Fokus wichtig ist: auf den Patientennutzen und die Effizienz, zum Beispiel der Personaleinsatz bei den Anwenderinnen und Anwendern. Gerade das Personal ist ein Engpass im System und hier sehe ich große Chancen für die Industrie, mit Prozess- und Produktinnovationen die Bedürfnisse der Userinnen und Usern zu adressieren.
Wo sehen Sie so langfristig Möglichkeiten, die Finanzierungsthematik im Gesundheitswesen zufriedenstellend zu lösen?
Das Entscheidende ist die Hebung der Gesundheitskompetenz in Kombination mit der Stärkung der Eigenverantwortung. Prävention ist ein Schlüsselfaktor und ein gesunder Lebensstil – etwas sehr Egoistisches – wirkt sich massiv auf die Gesamtkosten im System aus. Jeder Einzelne kann viel dazu beitragen, das solidarische System nicht zu überreizen. Man sollte sich immer die Frage stellen: „Was benötige ich tatsächlich für meine Genesung?“ Wir wissen, dass viele Medikamente aus der Apotheke geholt, aber nie verwendet werden. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie verantwortungslos die Gesellschaft mit den Beiträgen der solidarischen Sozialversicherung umgeht. Hier kann sich vermutlich jeder selbst an der Nase nehmen …
Haben Sie konkrete Forderungen an eine neue Bundesregierung?
Gesundheitsthemen ganzheitlich zu sehen, ein klares Bekenntnis zu einer evidenzbasierten Medizin sowie einen raschen Digitalisierungskurs, denn Digitalisierung schafft in vielen Bereichen Transparenz. Und Transparenz muss die Entscheidungsgrundlage auch im Gesundheitssystem sein.