Wie wir bereits von der Pandemie wissen, ist es oft unbequem, sich an Neues zu gewöhnen. Wie es dennoch klappen kann, erklärt Lena Lührmann, Unternehmensberaterin und Expertin für Innovation und Zukunftssicherung, die kürzlich das Buch „Innovation leben!“ veröffentlicht hat, in dem sie „Out-of-the-Box“-Tipps gibt, wie Unternehmen Zukunftspotenziale erkennen, beurteilen und heben können.
Was genau verstehen Sie unter Innovation?
Für mich bedeutet Innovation „Zukunftssicherung“. Damit meine ich, dass jedes Unternehmen oder jede Gesellschaft dafür sorgen muss, dass sie morgen noch relevant in ihrem Tun ist. So wie viele heute arbeiten oder entwickeln, sind sie das aber nicht mehr lange, sie haben ein klares Ablaufdatum. Innovation bedeutet dann, dieses Ablaufdatum in die Zukunft zu verschieben und morgen noch relevant und am Puls der Zeit zu sein. Das heißt jetzt aber nicht, dass man ständig etwas Neues erfinden muss! Das kann ein Produkt sein, das kann die Digitalisierung von Prozessen sein, das kann aber auch die Investition in Mitarbeitende sein, die nach vorne denken oder die Veränderung des Mindsets der Führungskräfte. Zukunftssicherung muss den gleichen Stellenwert haben wie Prozessoptimierung oder Marktausweitung.
Wie kann ein Unternehmen der Medizinprodukte-Branche zukunftssicher werden?
Mein Tipp: der 360-Grad-Blick. Man muss alle Bereiche im Unternehmen beachten, nicht nur jene Teile, wo es um die Entwicklung neuer Produkte geht. Eine gute Frage, die man sich selbst stellen sollte: „Wo stehen wir gerade hinten an, wo gibt es Schwierigkeiten?“ Hat man diese „Baustellen“ gefunden, dann geht es ans Beheben der Schwachstellen.
Warum benötigen Unternehmen Innovation und wie viel davon?
Das hängt vom Angebot ab. Hat ein Unternehmen Produkte, die am Markt nicht abgelöst werden können, dann wird vergleichsweise weniger dringend Innovation benötigt. Aber Achtung, hier sollte man wirklich kritisch hinschauen und sich nichts schönreden. Wer Produkte mit kurzen Lebenszyklen hat, die auch noch von vielen Mitbewerbern angeboten werden, der sollte sich schleunigst Gedanken um sein Ablaufdatum machen. Das Innovationsbestreben ist immer gleich, denn es ist der Maßstab für die Zukunftssicherung. Und hier gibt es keinen Anfang und kein Ende, kein Genug oder Zuviel. Zukunftssicherung muss gelebter Unternehmensalltag sein, das neue Normal.
Die gute Nachricht dabei ist, dass wir nicht unbedingt immer alles selbst erfinden müssen. Kooperationen – beispielsweise in der Forschung und Entwicklung – sind gute Möglichkeiten, sich das möglicherweise fehlende Mindset dazu zu holen. Auch das erfordert Mut und Veränderung – nicht jeder ist bereit zu kooperieren. Wichtig ist, nie aufzuhören, sich umzusehen und über den Tellerrand zu blicken. Klar ist: Wer sich nicht auf Neues einlassen will oder kann, der hat ein irreversibles Ablaufdatum. Zuerst werden die Betriebe oder Gesellschaften, die das betrifft, schrumpfen und irgendwann in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Man kann sich nicht ewig darauf ausruhen, dass man 30 Jahre erfolgreich war. Das mag schon sein – aber die viel wichtigere Frage ist ja: Was ist mit den nächsten 30 Jahren?
Gibt es Vorbilder, von denen man lernen sollte?
Wir schauen immer nach außen, wer die großen Innovatoren sind. Ich bin überzeugt, die wirklichen Innovatoren haben wir schon alle in den eigenen Betrieben, Menschen mit Erfahrung, Zielgruppen-, Markt- und Produktkenntnis. Aber sie werden nicht gehört, man traut es ihnen nicht zu oder sie sitzen an strategisch falscher Stelle. Nehmen Sie die Menschen im eigenen Betrieb als Vorbild und befähigen Sie sie, ihre Innovationskraft zu entfalten.
Wer ist „zuständig“ für Innovation?
Alle im Betrieb. Es ist der Chef, der es ermöglichen muss, dass Mitarbeiter unbequeme Fragen stellen dürfen. Es ist das mittlere Management, die erkennen müssen, wenn im Team jemand gute Impulse bringt und nicht nach traditionellen Mustern denkt. Die wirklichen Innovatoren sitzen meist auch nicht in der Chefetage.
Was für Fähigkeiten brauchen Menschen dazu?
Das Schwierigste ist es, loszulassen. So können erst Chancen und Risiken erkannt und schonungslos offen gelegt werden. Von Mitarbeitenden würde ich mir mehr Unbequemlichkeit wünschen. Meist sind viele schon so an eingewachsene Strukturen angepasst, dass ihnen der Mut abhanden gekommen ist, ihre Ideen überhaupt laut auszusprechen.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung?
Europäische Gesundheitssysteme sind hier behäbig und „fremdeln“. Nachdem es keine sachlichen Gründe gibt, das Potenzial digitaler Anwendungen auszuschöpfen, können es auch hier nur emotionale sein: zu viel Mühe, zu viel Angst vor Veränderung, zu unangenehm, sich auf Neues einzulassen.
Ihr Motto lautet: „Wo keiner weiß, wie es geht – da ist vorne“ – können Sie das ein wenig beschreiben?
Wenn ich immer ausgetretene Wege gehe, kann ich immer nur der Zweite sein. Wir in Europa lieben Best-Practice-Beispiele – und genau das ist das Problem. Wenn ich nur nachmache, was andere schon getan haben, werde ich keine neuen Wege gehen können. Das heißt nicht, dass wir immer das Rad neu erfinden müssen, aber wir brauchen Mut, auch einmal etwas zu probieren, was vor uns noch kein anderer gemacht hat.
In der Medizinprodukte-Branche werden die regulatorischen Rahmenbedingungen immer strenger. Wie kann es gelingen, unter diesen Voraussetzungen noch Innovationen auf den Markt zu bringen?
Oft gelingt es jetzt auch schon, diese Regeln so zu interpretieren, dass sie möglichst wenig einschränken. Am einfachsten wäre es, die Frage zu stellen: Was wäre ohne diese regulatorischen Rahmenbedingungen anders? Ziel der Gesetzgeber ist es, das Wohlergehen der Menschen zu sichern. Wenn man es schafft, den Gestaltern anhand einfacher, klarer und effizienter „Out-of-the-Box“-Lösungen zu zeigen, wie es ohne diese Regeln oder mit veränderten Regeln besser gehen würde, gibt es keinen Grund mehr, daran festzuhalten. Anstatt umfangreiche Konzepte und viel Papier vorzulegen, machen Sie es an einem praktischen Beispiel fest, indem Sie die Regeln außen vorlassen und zeigen, was dann möglich wäre. Was hier auch noch hilft, ist, die informierte Öffentlichkeit einzubinden und ein Thema buchstäblich „öffentlich“ zu machen. Fest steht: Wir können Regeln nicht abschaffen, aber wir können die Macher der Regeln zum Umdenken motivieren. Andernfalls innovieren wir nur um Regularien herum und das beschneidet die Zukunftssicherung. Am Ende überholen uns dann jene Länder, die keine Regularien haben …
Welche Innovationen im Gesundheitswesen finden Sie besonders hervorhebenswert?
Alle, die den Menschen dort ersetzen, wo die Maschine etwas besser kann, also etwa die KI zur Befundung bei Röntgenbildern, und alle Produkte, die Menschen im Gesundheitswesen entlasten, zum Beispiel eine digitale Dokumentation. Mitarbeiter im Gesundheitswesen müssen weg von der Angst, ersetzt zu werden. Sie müssen nur dort loslassen, wo es Maschinen gibt, die ihre Arbeit besser oder leichter machen. Am Ende gibt es für die Mitarbeiter immer noch ausreichend zu tun!