Ärzte, Therapeuten, vor allem aber Pflegekräfte befinden sich in ihrem Arbeitsalltag in einem Spannungsfeld zwischen normativem Anspruch an eine am Einzelnen orientierte Medizin bzw. Pflege (Patientenorientierung) und den ökonomischen Zwängen im klinischen Alltag. Die Strukturen im Gesundheitsbereich fordern gerade von den Pflegenden die Verwirklichung dieses normativen Anspruchs, etwa die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse, umfassende Begleitung, Beratung, Betreuung, wertschätzende Interaktion und Kommunikation oder auch die Berücksichtigung der Selbstbestimmung.
Der normative Anspruch mache die Pflegeinrichtungen erst zu humanen Institutionen, die wirtschaftlichen Zwänge aber nötigen zugleich zu funktionalem Handeln, beschreibt Dr. Karin Kersting, Professorin für Pflegewissenschaften an der Hochschule Ludwigshafen, das Dilemma, dem sich Pflegende immer häufiger gegenüber sehen: „Die Strukturen fordern etwas, das nicht einzulösen ist. Sie sind Kälte verursachend.“ Kersting erklärt ihre Schlussfolgerung wie folgt: „Nimmt man Anspruch auf individuelle Betreuung ernst, müsste man verzweifeln, ausbrennen oder aussteigen. Die meisten von uns tun das aber nicht, sie halten durch, machen weiter, Tag für Tag.“ Das sei aber nur möglich, „indem wir uns kalt machen. Mit der Kälte können wir mehr oder weniger widerstandslos hinnehmen, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein beansprucht bzw. wie sie sein sollte.“
Kälte müsse in diesem Sinne als eine Reaktionsform des Einzelnen auf die strukturellen Bedingungen verstanden werden, als eine Strategie, um alltägliche Normverletzungen hinnehmen zu können. Gerade die Alltäglichkeit und fehlende Besonderheit der Normverletzung birgt dabei eine Normalitätstendenz, die zum Maßstab für Normalität selbst gesetzt wird. Die Pflegenden lernen laut Kersting, „sich selbst kalt zu machen, die vorgegebenen Zwänge mit mehr oder weniger Widerstand hinzunehmen. Damit stabilisieren sie allerdings letztendlich genau das, wovor sie sich zu schützen suchen: Kälte.“
Der unauflösliche Widerspruch zwischen Norm und Rahmen ist das zentrale Thema sogenannter Coolout-Studien, an denen auch Kersting arbeitet. Der Begriff Coolout beschreibt und erklärt „den Prozess einer moralischen Desensibilisierung aufgrund dieses Spannungsfeldes, der sich im Laufe der beruflichen Tätigkeit im Gesundheitsbereich entwickelt“.
Coolout-Studien wurden ursprünglich nicht für den klinischen Bereich entwickelt, haben ein breites Einsatzspektrum, unter anderem im Bereich der Pädagogik. Die Methode ist aber eben auch besonders gut auf den klinischen Alltag anwendbar. Zielgruppe klinischer Coolout-Studien ist meist das Pflegepersonal, häufig in der Intensivmedizin als besonders exponiertes Forschungsfeld. Viele der beschriebenen Verhaltens- und Reaktionsmuster sowie der angewandten kognitiven wie emotionalen Strategien sind aber durchaus auch auf Ärzte und anderes Gesundheitspersonal übertragbar.
Solche Coolout-Strategien lassen sich in Form von Reaktionsmustern beschreiben. Sie reichen vom fraglosen Hinnehmen des scheinbar Unveränderbaren über das bewusste Anpassen an Unvermeidliches bis hin zur Idealisierung einer falschen Praxis. In diesem Sinn nehmen Coolout-Studien per se immer eine negative Perspektive ein, räumt Kersting ein, eine Auseinandersetzung damit hätte aber trotzdem auch etwas Entlastendes, indem der Widerspruch einer Diskussion zugänglich gemacht wird: „Die Offenlegung der Zusammenhänge ist notwendig, sonst führt es dazu, dass berufliches Handeln dem Scheitern unreflektiert ausgeliefert wird, dass das Scheitern personalisiert, also dem Einzelnen zugeordnet wird“, erklärt Kerting. Der würde dann für etwas therapiert, was in Wahrheit strukturell bedingt ist. Man könne dem Widerspruch aber nicht auf individueller Ebene begegnen.“
Auch Silke Doppelfeld, Intensivpflegekraft im Marienhaus Klinikum im Kreis Ahrweiler, setzt sich als Pädagogin und Beraterin für Pflege und Gesundheit seit Jahren mit Bewältigungsstrategien im klinischen Prozess auseinander. Der Pflege- bzw. Behandlungsprozess ist ihrer Ansicht nach immer auch eine Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz und birgt die Gefahr einer emotionalen Dissonanz. Empathie und Mitgefühl spielen dabei eine entscheidende Rolle. „Mitgefühl stärkt uns, anstatt Energie zu rauben“, ist Doppelfeld überzeugt. Und Empathie sei bei Heilberufen ohnehin absolut notwendig, ein essenzieller Bestandteil jeder qualitativ hochwertigen Versorgung – zugleich aber auch „ein Damoklesschwert, wenn Gefühle auf uns überschwappen.“
Eine solche Übertragung der Gefühle von Betroffenen auf Helfende kann in der Folge zu einer sekundären Traumatisierung führen – eine Belastung, die durch das Wissen über ein traumatisches Ereignis ausgelöst wird, das einer anderen Person widerfährt oder widerfahren ist. Personal auf Intensivstationen ist aufgrund der speziellen Dynamik der kumulativen Traumatisierung, gepaart mit meist sehr kurzen Erholungszeiten besonders gefährdet. Bei solcherart traumatisierten Helfern setzt eine körperliche Schutzreaktion ein, die in einer reduzierten Empathiefähigkeit gipfelt. Der Kontakt zu den Patienten wird möglichst begrenzt, die Tätigkeiten werden nur mehr mechanisch bzw. instrumentell ausgeführt.
Die psychotraumatologische Forschung hat für die Wechselwirkung zwischen traumatisierten Menschen und deren professionellen Helfern den Begriff „Compassion fatigue“ geprägt (Charles R. Figley, 1999), übersetzbar mit: Mitgefühlserschöpfungssymptom. Josefa Günthör, Oberschwester in der Krankenanstalt Rudolfstiftung, beschreibt diese „Metamorphose von der Lust zur Last“ in der klinischen Praxis so: „Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo man nicht mehr mehr geben kann. Dann sind die Ressourcen aufgebraucht, vor allem die seelischen.“
Bislang werde der Traumadynamik im klinischen Alltag viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, kritisiert die bekannte Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Gesundheitspsychologin, Juristin und Theologin Rotraut A. Perner. „Traumen wegzutherapieren oder Bedingungen zu ändern, damit so etwas nicht passiert“, halte sie allerdings „für eine Frage der Ethik“.
Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Team zu. „Traumatisierungen haben vielfach damit zu tun, weil in dem Augenblick, wenn man überfordert ist, niemand da ist, der einem sagt, wie es geht“, erläutert Perner: „Wir haben alle unsere Mikrotraumen, und wenn sich die multiplizieren, lösen sie dann oft eine großes Trauma aus.“ Nicht selten würden solche Mikrotraumen dabei auch durch die Kollegen selbst ausgelöst.
Um Traumatisierungen oder Mitgefühlserschöpfungssymptome zu vermeiden, müssten Betroffene Strategien entwickeln, um die Resilienz, ihre psychische Widerstandsfähigkeit, zu stärken und gleichzeitig zu lernen, mit den Belastungen der Arbeitswelt in angemessener Weise umzugehen, ergänzt Doppelfeld. Zur Förderung der Resilienz hat L.A. Pearlmann Ende der 1990er-Jahre sein „ABC der Selbstfürsorge“ entwickelt:
Neben den persönlichen Präventions- und Schutzfaktoren spielt wiederum das Team eine entscheidende Rolle. Doppelfeld empfiehlt etwa innerhalb des Teams eine „Kommunikation von Gelungenem und Guten“, anstatt „sich gegenseitig nur mit Traumathemen zu bombardieren“. Natürlich brauche es zudem entsprechende Informations-, vor allem aber auch Beratungs- und Reflexionsangebote durch den Arbeitgeber.