Wie kam es zur Gründung der Standortanwaltschaft, und was ist ihre Aufgabe?
Im Herbst 2016 hat die Wirtschaftskammer Wien erstmals die Idee der Standortanwaltschaft präsentiert und im Dezember 2018 wurde sie von der Regierung umgesetzt. Die Landes-Wirtschaftskammern stellten seit 1. Juli 2019 in ihrem jeweiligen Bundesland die zuständige Standortanwaltschaft. Konkreter Hintergrund für die Forderung war der jahrelange Stau bei wichtigen Infrastrukturprojekten im Osten des Landes. Mit der Standortanwaltschaft ist es gelungen, ein Instrument zu schaffen, das die öffentlichen Interessen wie Energieversorgung, Arbeitsplatzsicherung oder Steueraufkommen und die Interessen der Wirtschaft in Genehmigungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfungen besser in Einklang bringt.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Thema „Innovation“?
Wir arbeiten entlang der Wirtschafts- und Innovationsstrategie „Wien 2030“. Einer der großen Schwerpunkte darin ist der Ausbau und die Weiterentwicklung der Gesundheitsmetropole Wien, um die Stadt zu einem weltweit führenden Gesundheitsstandort zu machen. Spitzenmedizin, ein leistbarer Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheits- und Pflegedienstleistungen sowie exzellente Forschung und einschlägige Unternehmen im Gesundheitsbereich anzusiedeln und zu fördern sind wichtige Bausteine dazu. Wir haben evaluiert, wo wir bereits Vorreiter sind, aber auch, wo wir noch besser werden können und wo durch die Gesundheitswirtschaft Wachstum und Arbeitsplätze entstehen. Innovation ist dabei ein zentraler Drehpunkt, denn Wien hat zum Beispiel neben München und Kopenhagen die meisten Patentanmeldungen in Europa bei Biotech-Produkten. Zur Umsetzung, damit aus den Patenten auch wirtschaftlich leistungsfähige Betriebe entstehen, braucht es jetzt innovative Medizintechnik oder digitale Technologien. Diese Bereiche kann man daher als große Chancen und Wachstumsmotoren der Zukunft sehen. Unser klares Ziel heißt: Wien zu einem weltweit führenden Standort für Forschung und Unternehmen zu machen, um die Innovationen aus den Bereichen Biotechnologie, Medizintechnik, Digital Health und Gesundheit in die medizinische Anwendung zu bringen. Es muss uns also gelingen, die Forscher und Entwickler noch besser mit den praktischen Umsetzern zu vernetzen.
Dazu braucht es vermutlich auch entsprechendes Kapital. Wie sieht es mit der Förderlandschaft aus?
Wir haben eine gut aufgestellte Förderlandschaft in Österreich, aber natürlich gibt es Geld nicht nur mit ein paar Mausklicks auf Onlineanträgen. Das sind ja alles keine trivialen Produkte und Leistungen, um die es hier geht. Die Antragssteller sind gefordert, umfassende Unterlagen einzureichen, Präsentationen zu erstellen und sich gut vorzubereiten. Wenn es dann gelingt, aus einem Fördertopf Geld zu bekommen, dann wird der Kapitalbedarf meist sehr effizient und effektiv gedeckt, und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Um sich leicht in diesem Förderdschungel zurechtzufinden, haben wir in der Wirtschaftskammer eine eigene Förderabteilung eingerichtet, die beratend zur Seite steht, damit man nicht unnötige Umwege geht. Fördernehmer sollen schon in einem frühen Zeitpunkt zu den richtigen Förderstellen geleitet werden. Wir bekommen international viel Lob für unsere große und breite Förderlandschaft. Mein Tipp lautet: Keine Angst vor dem Aufwand haben, Probieren zahlt sich aus!
Wie läuft aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit von etablierten Unternehmen und Start-ups im Gesundheitssektor?
Hier haben wir noch Nachholbedarf. Wir müssen mehr Technologietransferzentren schaffen, die an die Forschung angebunden sind, um diesen Austausch in die Gänge zu bekommen. So könnten Betriebe etwa Start-ups Laborkapazitäten zur Verfügung stellen, wenn im Gegenzug dann die Studienergebnisse auch im Unternehmen bleiben. Es gab schon eine Reihe von Initiativen, um Traditionsbetriebe mit kleinen innovativen Start-ups zu vernetzen und so neue Produktideen auf den Markt zu bekommen. Das hilft ja beiden Seiten: Forschung muss in die Praxis kommen und in der Praxis benötigt man den jungen Innovationsgeist.
Gibt es dazu Beispiele?
Aktuell entstehen solche Projekte etwa am MedUni Campus am AKH, wo auf mehr als 6.000 m² moderne Rahmenbedingungen für die Erforschung der Möglichkeiten personalisierter und digitaler Medizin geschaffen werden. Rund 200 Forscher sollen bis Ende 2026 am Zentrum für Präzisionsmedizin die optimale Infrastruktur vorfinden, um Präventions-, Diagnose- und Therapiemethoden zu entwickeln. Auch das Clinical Center for Studies in Regenerative Medicine (CCSRM) am AUVA-Lorenz-Böhler-Krankenhaus in Wien hat die Aufgabe, relevante Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sowie aus Beobachtungen aus der ärztlichen Routine in klinisch anwendbares Wissen zu übersetzen.
Das Vienna BioCenter ist der räumliche Zusammenschluss verschiedener akademischer und industrieller Forschungseinrichtungen und Unternehmen aus dem Bereich der Biowissenschaften im 3. Wiener Gemeindebezirk, und in der Muthgasse im 19. Bezirk forschen Studierende der Universität für Bodenkultur an praxisrelevanten Aufgabenstellungen für Biotechnologie.
Im Sonnwendviertel wurde kürzlich das Future Health Lab, ein lokales Health Innovation Ecosystem, eröffnet, das zum zum Experimentieren und Gestalten einlädt. Im Mittelpunkt stehen Gesundheitsinnovationen rund um die Telemedizin, die entwickelt, angewendet und breit zugänglich gemacht werden sollen. Das Health Hub Vienna ist eine Plattform für Open Innovation im Gesundheitswesen, das EIT Health Austria generiert skalierbare Lösungen für Prävention, Gesundheitsversorgung und ein nachhaltiges Gesundheitssystem. In einer Kooperation im Rahmen der DigitalCity.Wien-Initiative entsteht die HEALTH.DigitalCity.Wien und soll ein Wissensnetzwerk für aktuelle Trends und Visionen rund um Future-Tech und Digitalisierung im Gesundheitsbereich werden.
Häufig beklagen Medizinprodukte-Unternehmen die hohe Komplexität der Regulierung und der rechtlichen Rahmenbedingungen. Wie sieht hier die Zukunft aus?
Wir haben hier schon ein sehr enges EU-Korsett umgeschnallt, wie wir an den Benannten Stellen gut sehen können. Wien ist hier keine Insel der Seligen, und wir wünschen uns natürlich auch, dass die österreichischen Behörden mehr Unterstützungseinheiten schaffen, wie es beispielsweise in Deutschland der Fall ist. Dennoch kommen wir alle nicht um die EU-Vorgaben herum. Die heimischen Behörden wären zumindest aufgefordert, sich dort, wo es möglich ist, gegen die bürokratischen Hürden zu stellen und die Unternehmen zu schonen. Ich denke, dass wir da noch Luft nach oben haben.
Welche Fortschritte im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen sehen Sie?
Wir schieben gerne den Datenschutz vor, warum etwas nicht gehen kann, doch gerade für die Medizinprodukte-Unternehmen und die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) wäre es von enormer Bedeutung, wenn wir hier offener wären. Anonymisierte Daten wären für die Forschung und für passende Produktentwicklungen enorm hilfreich. Wir laufen damit Gefahr, dass wir die DiGA-Entwicklung verschlafen, wenn wir weiterhin auf diesen Standpunkten beharren. Das wäre sehr schade, denn mit der elektronischen Gesundheitsakte ELGA, um die uns viele beneiden, haben wir rund 8,8 Mio. Menschen in einem Verzeichnis. Abgemeldet haben sich knapp 300.000 – das muss man schon im richtigen Verhältnis sehen! Deutschland hat im Vergleich dazu nicht einmal 1 % der Bevölkerung in ihren elektronischen Patientenakten.
Die Entscheidungsträger in den Sozialversicherungen müssen jetzt rasch erkennen, dass die wohnortnahe Versorgung mit DiGA leicht Realität wird und zu einer massiven kosten- und kapazitätsmäßigen Entlastung des Gesundheitswesens beitragen kann.
Die Nachhaltigkeits- und Lieferkettenverpflichtungen sind aktuell auch in der Gesundheitsbranche ein heiß diskutiertes Thema. Was wird die Medizinprodukte-Branche hier noch erwarten?
Es gibt nichts Nachhaltigeres als gesunde Menschen, und damit hat die Branche gute Karten. Der Blick auf die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG, Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen oder die Global Reporting Initiative (GRI), die Richtlinien für die Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten, zeigen, dass darin viele Themen abgedeckt werden, die zukunftsfähige Branchen ohnehin im Auge behalten müssen. Ressourcenschonung, ertragreiche Erwerbstätigkeit und menschenwürdige Arbeit oder eine belastbare Infrastruktur und Innovation unterstützen – all das sind Punkte der 17 SDG. Ich denke nicht, dass diese Themen für die Medizinprodukte-Branche so neu sind, sie sind vielleicht jetzt strukturierter und umfassender zu bearbeiten, aber ich bin überzeugt, dass die Betriebe hier schon enorm viel geleistet haben.
Welche Wünsche haben Sie an die Gesundheitsentwicklung?
Ich würde mich freuen, wenn in der Gesundheitswirtschaft das Präventionsthema im Sinne der Nachhaltigkeit mehr in den Vordergrund rücken würden. In Österreich haben wir ab dem 65. Lebensjahr 20 % Pflegegeldbezieher, in Skandinavien sind es nur 8 %. Das meiste Geld, nämlich fast 2 Mrd. Euro, geben wir für Rehabilitation, also Tertiärprävention, aus. Sinnvoller wäre es, die Primär- und Sekundärprävention mit Bewegung, Ernährung, Impf- und Vorsorgeprogrammen zu stärken. Ich denke, dass viele digitale Produkte gerade hier anknüpfen können. Nicht jeder Schrittzähler ist ein Medizinprodukt, aber technische Gadgets, die das Gesundheitsverhalten fördern, sind ein zukunftsfähiger Markt. Verknüpft mit passenden Bonusangeboten kann gesundes Verhalten nicht nur dem Einzelnen mehr gesunde Lebensjahre bringen, sondern auch das Gesundheitswesen nachhaltig entlasten. Am Ende wünsche ich mir, dass Wien ein Gesundheitshub wird, das weltweit dafür bekannt ist, innovative Ideen in wirtschaftlich tragfähige Produkt- und Dienstleistungsangebote zu übersetzen.