Unter dem Begriff Post-ICU-Syndrom werden heterogene Beschwerden bezeichnet, die verschiedene Bereiche beinhalten, sich aber vorwiegend in den drei Hauptgruppen Muskelschwäche bzw. reduzierte körperliche Belastung, kognitive Defizite und psychische Störungen wie zum Beispiel Depression oder posttraumatische Belastungsstörung zusammenfassen lassen.
Bis zu 70 % der intensivmedizinisch behandelten Patienten entwickeln im Laufe ihres Aufenthaltes auf einer Intensivstation ein sogenanntes Post-ICU-Syndrom. „Die Häufigkeit hängt mit der Schwere der Grunderkrankung und der Liegezeit auf der Intensivstation zusammen“, erklärt Dr. Dimitre Staykov von der Abteilung für Neurologie im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Eisenstadt. So liegt etwa bei Patienten nach einer Herz-OP mit Thorakotomie die Häufigkeit bei bis zu 20 %, bei Patienten nach Unfällen mit langer Liegedauer bei bis zu 70 %.
Muskuläre Schwäche nach einem Intensivaufenthalt kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Mobilität und Alltagskompetenz führen. Die Beschwerden bessern sich im nachfolgenden Verlauf nur langsam über Wochen, oft über mehrere Monate. Bei einem relativ hohen Anteil der Patienten mit ausgeprägten Beschwerden können auch dauerhafte Defizite der Muskelkraft persistieren. Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle, wie zum Beispiel die Beatmungsdauer auf der Intensivstation. „Wie aktuelle Studiendaten belegen, sind bei beatmeten Patienten erste Symptome von Muskelveränderungen am Zwerchfell oft schon 36 Stunden nach Behandlungsbeginn sichtbar“, weiß Staykov. Weiters sind die Schwere der Grunderkrankung und generell die Dauer des Intensivaufenthalts von entscheidender Bedeutung. Langliegende Patienten können eine sogenannte Critical-Illness-Polyneuropathie und -Myopathie entwickeln, die bei schwerer Ausprägung sogar die Entwöhnung vom Beatmungsgerät verzögert.
Kognitive Defizite können auch bei fehlenden körperlichen Beschwerden eine erhebliche Belastung für den Patienten und sein Umfeld darstellen. Diese Symptome werden besonders häufig nach einem Intensivaufenthalt beklagt (bis zu 80%).
Die Gründe für die Manifestation psychischer Störungen liegen auf der Hand: Die Einlieferung trifft den Patienten unvorbereitet, Symptome wie Schmerzen, Atemnot oder der Verlust lebensnotwendiger Funktionen sowie die Bewegungseinschränkungen lösen eine Reihe von Ängsten aus, die oft erst zum Tragen kommen, wenn das traumatische Erlebnis längst überwunden ist. „Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von prädisponierenden Faktoren des Patienten wie etwa psychischen Vorerkrankungen bis hin zu beeinflussbaren Faktoren, wie zum Beispiel Lärm auf der Intensivstation, konstantes Licht, Schlafmangel, Immobilisation und Orientierungslosigkeit“, sagt Staykov.
Ist der kritische Zustand des Patienten erst einmal stabilisiert, gilt es, auch diesen posttraumatischen Belastungsstörungen, die ihre Ursache im Aufenthalt auf der ICU selbst und nicht in der Grunderkrankung haben, entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken. Der wichtigste Aspekt ist, dem Patienten den Umgang mit der Belastung zu erleichtern sowie ihm das Gefühl zu geben, sich in der „fremden Umgebung Intensivstation“ sicher fühlen zu können. „Das Thema ist erst in den letzten Jahren in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und hat zu aktuellen Forschungen geführt“, weiß Staykov. Bis vor wenigen Jahren war das wesentliche Ziel der Intensivmedizin, das Überleben der Patienten zu sichern. Inzwischen ist deutlich geworden, dass bei den meisten Patienten nach einem Intensivaufenthalt „nachher nichts mehr wie vorher ist“ und schwerwiegende kognitive, psychische und körperliche Langzeitfolgen auftreten können.
Viele Belastungen treten durch das therapeutische Setting auf einer Intensivstation auf, wie etwa die Störung des Tag-Nacht-Rhythmus durch engmaschige Kontrollen der Vitalfunktionen, häufige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen oder permanente Beleuchtung. Verstärkt wird die Problematik durch eine ständige Reizüberflutung aufgrund unbekannter Geräusche medizinischer Geräte sowie die fehlende Rückzugsmöglichkeit und Privatsphäre. Das „über anstatt mit“ dem Patienten Reden ist gerade am Intensivbett besonders ausgeprägt, sodass Patienten nur selten Fragen stellen können oder aktiv in die Visite miteinbezogen werden. Aufgrund der Schwere der Erkrankung sind fast immer bisherige Lebensbezüge unterbrochen und Patienten sehen sich unvermittelt mit unbekannten, impliziten Verhaltensregeln auf Intensivstationen konfrontiert. Obwohl medizinisches Personal laufend anwesend ist, setzt vielen Patienten das Kommunikationsdefizit enorm zu, die eigene Kommunikationsfähigkeit ist oft infolge künstlicher Beatmung eingeschränkt. „Misslingen nonverbale Signalisierungsversuche, kommt es zusätzlich zu Frustration, Ärger und letztlich zur Resignation seitens des Patienten“, betont Staykov.
Einige Faktoren können präventiv positiv beeinflusst werden. Hierzu zählt vor allem die sorgfältige Prüfung der Notwendigkeit und die Minimierung einer tiefen Sedierung und Immobilisation. Weiters ist die Beachtung eines Tag-Nacht-Rhythmus auf der Intensivstation und die frühe Erkennung und Behandlung von deliranten Zuständen sehr wichtig. In der Behandlung bereits vorliegender Symptome des Post-ICU-Syndroms ist vor allem interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit mit Physiotherapeuten, Ergotherapeuten sowie einem kognitiven Training, psychologische und psychiatrische Behandlung gefragt, um die Lebensqualität und die Alltagskompetenz des Patienten zu verbessern, als auch das häusliche Umfeld und die Angehörigen, die sich um den Patienten zuhause kümmern, positiv zu beeinflussen.n