Ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), zeichnet im Gespräch eine Standortbestimmung des heimischen Gesundheitswesens und beschreibt Herausforderungen für kommenden Krisen.
Welche Hauptkomponenten machen ein widerstandsfähiges Gesundheitssystem aus?
Die Grundlage ist, dass das System krisenfest ist und auf Schocks unterschiedlicher Natur reagieren kann, ohne dabei seine Leistungsfähigkeit zu verlieren. Bei der Bewältigung werden mehrere Phasen durchlaufen: der Schock, die Reaktion, die Bearbeitung und schließlich die Anpassung oder Neuorientierung. Das kann am Ende bedeuten, dass ein System gestärkt aus der Krise kommt, höher performt als zuvor und die eigene Leistungsfähigkeit gesteigert hat.
Welche Dimensionen umfasst die Resilienz eines Gesundheitssystems?
Das umfasst einerseits die Anpassungsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit in Form von Krisenmanagement, Flexibilität und dem Vorhandensein sowie der Umsetzung effektiver Notfallstrategien. Dazu wurden etwa auf europäischer Ebene schon vor der Pandemie Grundlagen und Pläne erarbeitet.
Eine weitere Dimension ist „Governance und Steuerung“. Hier stellt sich die Frage, wie effektiv das Zusammenspiel von Regierung, Gesundheitsbehörden und anderen Akteuren ist, wie die Kommunikation abläuft oder wie rasch Regeln und Gesetze im Krisenfall angepasst werden können.
Dazu kommt noch die finanzielle Resilienz, bei der es um die Sicherstellung der finanziellen Mittel für Krisenzeiten geht, aber auch um eine gewisse Flexibilität der Finanzierungsmodelle, um Mittel bei Bedarf schnell umschichten oder erhöhen zu können. Auch Investitionen in Prävention wie Impfprogramme gehören hier dazu.
Die vierte Dimension „Infrastruktur und Ressourcenmanagement“ umfasst die Verfügbarkeit medizinischer Ausstattung, von Medikamenten und Schutzmaterialien, aber auch die Nutzung der digitalen Grundlagen für das Gesundheitssystem und die Sicherstellung von Lieferketten für essenzielle Medikamente und Medizinprodukte. Schließlich braucht es auch ausreichend Personalkapazitäten, verknüpft mit der Frage, wie diese in einer Krise auch flexibel eingesetzt werden können.
Wie bewerten Sie die aktuelle Resilienz des Gesundheitssystems?
Wir haben in allen Bereichen Luft nach oben. Wichtig ist, die Steuerung des Systems im Auge zu haben, also die Frage, wie man auf der Grundlage von Daten und Feedback die Schlüsselkompetenzen des Systems steuern kann. Wir haben in Österreich die Tradition, sehr viel an Kompetenzen und Verantwortlichkeiten auszuhandeln. Das ist grundsätzlich nicht schlecht, aber irgendwann muss auch eine Entscheidung getroffen werden. Das ist in Krisensituationen noch wichtiger als im „Normalbetrieb“, denn in der Krise braucht es meist sehr rasch und zeitnah Lösungen.
Wo sind die Ressourcen aktuell besonders angespannt?
Wir wissen, dass die Finanzmittel knapp sind. Da lohnt sich auch ein Blick über die Grenzen und die Frage: Wo genau und wofür benötigen wir im Vergleich zu anderen Systemen diese Mittel? Sind es die Mengen aufgrund gestiegener Nachfrage, die diese Gesundheitsausgaben verursachen, sind es neue Technologien, die wir einsetzen, oder sind es die Preise, die wir für die verschiedenen Ausgabenpositionen wie etwa medizinische Ge- und Verbrauchsgüter oder Personal bezahlen?
In der Pandemie waren die personellen Kapazitäten besonders knapp und damit die Leistungserstellung ab einem gewissen Punkt auch am Limit.
Wie kann dennoch die Versorgung sichergestellt werden?
Eine sichere Versorgung gibt es immer dann, wenn es mehrere Alternativen für eine effektive Leistungserstellung gibt. Das heißt etwa bei Medizinprodukten nicht zwangsweise, die Produktion unbedingt nach Europa oder Österreich zu holen. Denn auch damit können Lieferverpflichtungen einhergehen, die nicht unbedingt den Nachschub für den eigenen Versorgungsbedarf sichern. Vielmehr gilt: Je mehr unterschiedliche Lieferketten es für Produkte gibt, umso ausfallssicherer ist die Versorgung. Gleiches gilt auch für die Dienstleistungen: Gibt es zu den physischen Leistungen des Gesundheitspersonals zum Beispiel auch einen digitalen Pfad, der in Krisenzeiten aktiviert und genutzt werden kann, dann kann das die Lage rasch entspannen. Auf das Personal umgelegt heißt das: Je vielfältiger die Kompetenzen von Personal, umso breiter kann es eingesetzt werden kann und umso flexibler kann damit in einer Krise reagiert werden.
Welche Rolle spielt eine gesundheitskompetente Bevölkerung?
Bestimmte Themen, wie etwa das Gesundheitsverhalten bei Infektionskrankheiten, haben natürlich eine Auswirkung auf die Resilienz. Doch nicht jedes Gesundheitsthema muss gleich im politischen Kontext diskutiert werden. Wenn man eine gute Balance findet, um vulnerable Gruppen zu schützen, so trägt das auch zur Krisenbewältigung bei. Das gelingt zum Beispiel bei der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen nach dem sogenannten Chronic Care Model. Das Konzept betont, dass eine qualitativ hochwertige Versorgung nicht nur von ärztlichen Behandlungen abhängt, sondern von einer strukturierten Zusammenarbeit zwischen Patientinnen und Patienten, medizinischem Personal und dem Gesundheitssystem. Auch Selfcare-Konzepte umfassen die Fähigkeit von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften, ihre eigene Gesundheit zu fördern, Krankheiten zu verhindern und mit Erkrankungen umzugehen – mit oder ohne Unterstützung eines Gesundheitssystems.
Welche positiven Beispiele für Anpassungsfähigkeit oder schnelle Problemlösung gibt es in Österreich?
In der täglichen Arbeit gibt es viele gute Beispiele, wo die Kommunikation gefördert wird und die Zusammenarbeit sehr gut läuft. Vielleicht muss man die Frage stellen, wie die Elemente im System besser angeordnet werden können, um – gerade an Schnittstellen – Kooperationen und Kommunikationswege noch leichter als bisher zu gestalten. Das könnte zum Beispiel ein einheitliches Format für Patientendaten sein, auf das alle Leistungserbringer zugreifen können. Wir haben auch immer wieder unter Beweis gestellt, dass für bestimmte Themen auch Finanzierungslösungen gefunden werden können, etwa bei der Kinderrehabilitation oder bei der Ausrollung der Frühen Hilfen. Österreich ist auch bei der Hospiz- und Palliativversorgung international vergleichsweise gut aufgestellt. Gemeinsam ist all diesen Lösungen, dass sie immer auf integrierten Finanzierungsleistungen aufbauen. Das heißt: Dort, wo man es schafft, über die Finanzströme gemeinsam Verantwortlichkeiten zu schaffen, dort können auch innovative und gute Lösungen möglich werden.
Welche Rolle spielen Digitalisierung und Innovationen im Hinblick auf die Resilienz?
Digitalisierung und Innovationen sind maßgebliche Faktoren für die Widerstandsfähigkeit von Gesundheitssystemen. Sie ermöglichen es, auf vielfältige Weise über verschiedene Kanäle zu agieren und können eine hohe Bedeutung für die Versorgungssicherheit entwickeln. Daher liegt es an uns allen, Digitalisierung gezielt im System zu verankern. Digitale Dienstleistungen entfalten ihren vollen Nutzen jedoch nur dann, wenn sie nicht bloß als additive Ergänzung verstanden werden, sondern als echte und vollwertige Versorgungsform. Dadurch entsteht das Potenzial, den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verbessern – sei es aus geografischen Gründen oder weil Patientinnen und Patienten aufgrund ihrer Lebensumstände persönliche Termine nur schwer wahrnehmen können. Zwar sind nicht alle Menschen digital affin und für diese gilt es natürlich ganz besonders, auch physische Angebote vorzuhalten, man sollte aber die digitale Nutzungskompetenz der Bevölkerung nicht unterschätzen. Digitalisierung kann helfen, niedrigschwellige Angebote zu schaffen und damit die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit von Gesundheitsleistungen zu verbessern.
Welche Länder oder Regionen haben besonders resiliente Gesundheitssysteme?
Jedes Gesundheitssystem steht vor individuellen Herausforderungen. Einige Länder sind jedoch besonders gut in der digitalen Leistungserbringung aufgestellt, wie beispielsweise Dänemark, das ein hochintegriertes System betreibt. Auch die baltischen Staaten werden oft für ihre fortschrittliche Dateninfrastruktur hervorgehoben. Daneben gibt es Gesundheitssysteme, die in der Steuerung effizienter sind und Krisen besser managen können. Ein wichtiger Aspekt, über den wir in Europa nachdenken sollten, ist die Frage, inwiefern eine verstärkte europäische Zusammenarbeit zur Resilienz beitragen kann. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass gemeinsame Beschaffungsstrategien – etwa beim Einkauf von Impfstoffen – für alle beteiligten Länder von Vorteil sind und Versorgungssicherheit schaffen können. Dennoch sind viele Länder inzwischen wieder zu ihren individuellen Einkaufslogiken zurückgekehrt. Es wäre zu überlegen, ob eine stärkere Bündelung der Ressourcen nicht nachhaltiger wäre.
Wo sind künftig die großen Herausforderungen für die Resilienz von Gesundheitssystemen?
Hier stehen drei Fragen im Mittelpunkt: Wie steuern und organisieren wir das Gesundheitssystem effizient? Wie finanzieren wir es, insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels? Wie sichern wir die Erbringung von Gesundheitsleistungen, auch in Bezug auf Personalressourcen?
Ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Resilienz sind Stresstests und Resilienz-Checks, ähnlich wie sie aus der Finanzwelt bekannt sind. Sie helfen dabei, potenzielle Engpässe frühzeitig zu identifizieren und Kompensationsstrategien zu entwickeln. Krisenbewältigung sollte nicht erst im Ernstfall beginnen, sondern proaktiv vorbereitet werden. Aktuelle Entwicklungen zeigen zudem, dass Resilienz nicht nur im Zusammenhang mit epidemiologischen Krisen wie Pandemien betrachtet werden sollte. Auch Finanzierungsprobleme oder Personalengpässe können massive Auswirkungen auf die Stabilität des Gesundheitssystems haben. Letztlich geht es darum, für verschiedene Krisenszenarien gewappnet zu sein und nachhaltige Lösungen zu entwickeln.