Sehr geehrte Frau Kollegin,
Sehr geehrter Herr Kollege!
Vor einigen Wochen publizierten die American Diabetes Association (ADA) und die European Association for the Study of Diabetes (EASD) ein gemeinsames Positionspapier zum Blutzuckermanagement bei Typ2Diabetes (Inzucchi et al., Diabetes Care 35:1364, 2012/Diabetologia 55:1577, 2012). Das Papier steht in der Tradition der seit 2006 mehrfach herausgegebenen „ADA/EASD Statements“, und es ist absehbar, dass auch die neuen Empfehlungen die Diskussionen in der diabetologischen Community stark beeinflussen werden. Die Kerninhalte des Papiers, zusammen mit Anmerkungen von Vertretern der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG), können Sie in diesem DIABETES FORUM nachlesen. Es ist kein Geheimnis, dass ich mit verschiedenen Positionen des vorangegangenen ADA/EASDKonsensus (Nathan et al., Diabetes Care/Diabetologia 2008 Oct 22 [Epub ahead of print]) nicht einverstanden war. Ein zentraler Kritikpunkt, den ich zusammen mit 15 international anerkannten Experten aus Europa und den USA vorgebracht habe, bezog sich darauf, dass der 2008 vorgeschlagene Therapiealgorithmus die individuelle Befundkonstellation nicht genügend berücksichtigte (Schernthaner et al., Diabetologia 53; 1258, 2010). Bei allen Patienten mit Typ2Diabetes dieselbe therapeutische Strategie zu verfolgen, ist aber ebenso wenig sinnvoll wie allen Patientinnen mit Mammakarzinom, unabhängig von Rezeptorstatus, Tumorgröße, Lymphknotenbefall oder Metastasierung, das gleiche Therapieschema anzubieten. Dass in der Diabetestherapie, wie generell in der Medizin, ein differenziertes, am konkreten Patienten ausgerichtetes Vorgehen erforderlich ist, ist auch keine neue Erkenntnis: Wie Prof. Helmut Schatz in seiner Stellungnahme für die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie anmerkte, vertrat schon Hippokrates von Kos vor 2.500 Jahren diesen Standpunkt (www.endokrinologie.net/presse_120423.php). Be denkt man die enorme Bedeutung, welche die „ADA/EASD Guidelines“ für die ärztliche Meinungsbildung auf der ganzen Welt haben, so kann man nur begrüßen, dass die Ausrichtung der Diabetestherapie an den Bedürfnissen jedes Patienten nunmehr schon im Titel des neuen Positionspapiers („a patientcentered approach“) ausdrücklich propagiert wird. Individualisierte Diabetestherapie bedeutet zunächst, das HbA1cZiel an das Alter, allfällige Komorbiditäten (insbesondere Herzerkrankung und Nierenerkrankung) und das Hypoglykämierisiko anzupassen. Bei der Wahl der antidiabetischenMedikation sind zusätzlich Arzneimittelinteraktionen und Unverträglichkeiten sowie persönliche Vorlieben (Ernährung, Tagesablauf, Medikation etc.) zu berücksichtigen. Durch die vielen neuen Möglichkeiten der Blutzuckersenkung können wir mit Insulin heute etwas zurückhaltender sein, aber es gibt Patienten, die mit einer frühzeitigen Insulintherapie nach wie vor am besten versorgt sind. Bei übergewichtigen Patienten wiederum sollte man möglichst Therapien wählen, welche die Gewichtszunahme nicht weiter fördern, und bei massivem Übergewicht wird man in Zukunft möglicherweise vermehrt auf die bariatrische Chirurgie setzen. Diese vielversprechende Option (Schauer et al., N Engl J Med 366:1567, 2012; Mingrone et al., N Engl J Med 366:1577, 2012) wird im ADA/EASDPositionspapier vorerst nur angedeutet, weil wir die Langzeiterfahrungen abwarten müssen, bevor wir derart invasive Formen der „Diabetestherapie“ propagieren.
Auch auf die erwartete Häufung von Krebserkrankungen bei Patienten mit Typ2Diabetes (durch steigende Adipositasprävalenz und längere Lebenserwartung) und deren Implikationen für das Hyperglykämie Management geht das Positionspapier nur am Rande ein. Hinweise auf positive (Metformin) bzw. negative Effekte (Insulin, Pioglitazon) einzelner Antidiabetika stammen fast ausschließlich aus Observationsstudien, sodass der Einfluss von Confounders auf die beobachteten Assoziationen nur schwer quantifizierter ist. Nach derzeitiger Konsensmeinung sollten mögliche Krebsrisiken bei der Wahl der antidiabetischen Therapie im Normalfall keine besondere Rolle spielen (Giovannucci et al., Diabetes Care 33:1674, 2010).
Zusammenfassend ist den Autoren der neuen ADA/EASDEmpfehlungen eine deutlich differenziertere – damit naturgemäß aber auch weniger eindeutige – Darstellung der antidiabetischen Therapiepfade gelungen als zuletzt. Die konkrete Therapiewahl ergibt sich aus der Abwägung der Benefits und Risiken der verschiedenen Antidiabetika vor dem Hintergrund der individuellen Wünsche und Bedürfnisse und der spezifischen Risikokonstellation jedes Patienten – durchaus nicht unähnlich dem Ansatz, den die ÖDG in ihren Praxisleitlinien (Clodi et al., Wien Klein Wochenschau 121(Suppl 5): S13, 2009) verfolgt hat.
Prim. Univ.Prof. Dr. Guntram Schernthaner