In den letzten Jahrzehnten wurde eine globale Zunahme von Patienten mit Diabetes mellitus beobachtet. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wächst die Weltbevölkerung von 2000 bis 2030 um 37%, die Zahl der Menschen mit Diabetes wird im gleichen Zeitraum um 114% steigen. Gab es im Jahr 2000 weltweit etwa 170 Millionen Diabetiker, so wird erwartet, dass die Zahl der Erkrankten bis zum Jahr 2030 auf über 370 Millionen steigen wird. An der Spitze der gefährdeten Länder stehen, bedingt durch den Bevölkerungsreichtum, asiatische Länder wie Indien und China. Das Problem ist aber nicht nur auf das ferne Asien beschränkt, sondern besteht auch hier bei uns in Europa, wo es von 2000 bis 2010 zu einem Anstieg der Erkrankten um ca. 50% von 33 Millionen auf 48 Millionen Diabetiker kam.
Im ersten Österreichischen Diabetesbericht (2004) gab es auch für Österreich Schätzungen zur Zahl der Diabetiker basierend auf Erhebungen der Statistik Austria sowie auf pharmazeutischen Verkaufszahlen. Diesen Angaben zufolge litten 2004 etwa 4,2% bis 4,6% der Bevölkerung über 14 Jahre an einem diagnostizierten Diabetes mellitus, entsprechend einer Diabetespopulation von 300.000 bis 315.000 Personen.
Statistik Austria führte im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit später eine groß angelegte Gesundheitsbefragung durch. Von März 2006 bis Februar 2007 wurden 15.000 Personen im Alter über 14 Jahre von geschulten Interviewern unter anderem zu chronischen Erkrankungen befragt. Laut Ergebnisbericht der Gesundheitsbefragung 2006/2007 (ATHIS, Health Interview Survey) hatten im Jahre 2007 hochgerechnet etwa 390.000 Personen der befragten Bevölkerung (gesamt 6,99 Millionen über 14-Jährige) einen Diabetes mellitus, entsprechend einem gemittelten Anteil von 5,9%. Das “Gesundheitsproblem” wurde in 99,2% der Fälle von einem Arzt diagnostiziert und 93,8% der Befragten hatten im Jahr der Befragung einen Arztkontakt.
Die Prävalenz der Diabetiker ist alters- und geschlechtsabhängig. In der Gruppe der 15- bis 29-Jährigen hatten 0,6% und in der Gruppe über 75 Jahren 21,2% einen Diabetes mellitus (Tab. 1).
Tab. 1: Prävalenzrisiko der Diabetespopulation nach Altersgruppen | |
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Altersgruppe | Diabetes mellitus (%) |
15-29 Jahre | 0,6 |
30-44 | 1,6 |
45-59 | 5,2 |
60-74 | 12,9 |
≥ 75 Jahre | 21,2 |
≥ 15 Jahre, gesamt | 5,9 |
Quelle: Statistik Austria, Gesundheitsbericht 2006/2007 |
Diabetes mellitus und assoziierte Komplikationen stellen jetzt und vermehrt in den kommenden Jahren gewaltige Anforderungen an die Gesundheitssysteme. Weltweit sind alleine 2005 etwa 1,1 Millionen Menschen an diabetischen Komplikationen verstorben.
Im Verlauf der Erkrankung kommt es bei vielen Patienten zu mikro- und makrovaskulären Veränderungen. Durch den Gefäßreichtum der Nieren ist es nicht verwunderlich, dass Komplikationen sehr häufig die Nieren betreffen. Die diabetische Nephropathie (DNP) ist eine Spätfolge von Diabetes mellitus und die Urämie mit Dialysepflichtigkeit eine Spätfolge der Nierenerkrankung. In den USA hatten 2006 etwa 40,6% der inzidenten Patienten an der Dialyse einen bereits vorher diagnostizierten Diabetes mellitus, dazu kamen 6,5% vorher nicht bekannte und 10% im ersten Dialysejahr neu diagnostizierte Diabetiker. Von 10 neuen Dialysepatienten hatten somit 6 einen Diabetes. Auch in Österreich ist die DNP die Hauptkrankheitsursache der neuen Patienten mit einer Urämie. Von den inzidenten Patienten über 14 Jahre, die in den Jahren 2005 bis 2008 eine chronische Nierenersatztherapie begonnen haben, waren im Durchschnitt 32,1% Diabetiker.
Inzidente Diabetiker an der Dialyse haben in der Regel eine mehrjährige Vorgeschichte. Aus der erwähnten Gesundheitsbefragung 2006/07 kann nicht abgeleitet werden, wie viele der prävalenten Diabetiker ein Nierenproblem haben. Bei der Diabetes-Care-Austria-2009-Studie (Ludvik & Schernthaner, Wien Klin Wochenschr 2012), einer umfangreichen österreichweiten Erhebung zur Therapie des Typ-2-Diabetes bei niedergelassenen Allgemeinmedizinern, sollten auch mikro- und makrovaskuläre Komplikationen in Abhängigkeit von der Diabetesdauer erfasst werden. Von den Teilnehmern hatten 23,2% eine Mikroalbuminurie und 24,6% eine Proteinurie, der Prozentsatz mit eingeschränkter Nierenfunktion ist nicht bekannt. Es erstaunt, dass in dieser Studie bei 66% der Patienten keine Nierenparameter erhoben wurden.
Kranke Nieren bleiben oft über lange Zeit stumm und machen keine aufregenden Symptome. Der Beginn der Störung kann aber mit einfachen Laboruntersuchungen erfasst werden. Dazu gehören ein Nierenfunktionstest und zusätzlich eine quantitative Bestimmung der Albuminausscheidung aus einer Urinprobe. Aus Ergebnissen von Studien in den USA leiten wir ab, dass auch in Österreich der Anteil der prävalenten Diabetespopulation mit eingeschränkter Nierenfunktion zwischen 15% und 18% liegt. Bei Progression der Erkrankung kommt es zu einer weiteren Funktionseinschränkung bis hin zur Dialysepflichtigkeit.
Im Endstadium der Niereninsuffizienz ist die Typisierung von Diabetikern (Typ 1 oder Typ 2) nicht einfach. Die Zuordnung ist aufgrund des Alters, der Vorgeschichte, der Diabetesdauer oder der Dauer der Insulinpflichtigkeit zu 20-50% nicht möglich. Eine bessere Zuordnung kann in den kommenden Jahren durch die Analyse von immunreaktiven Proteinbruchstücken (Urinomics) erwartet werden. Patienten mit Typ-1-Diabetes sind wesentlich jünger als solche mit Typ-2-Diabetes, sie haben auch ein anderes Muster an Begleiterkrankungen und eine andere Lebenserwartung. Für die Analyse epidemiologischer Kenngrößen, insbesondere für die Darstellung der Inzidenz werden terminal niereninsuffiziente Patienten mit unterschiedlichen Diabetestypen zu Diabetikern mit “End-stage renal disease” (ESRD-DM) zusammengefasst, da auch für die prävalente Diabetespopulation keine Zuordnungen zu unterschiedlichen Typen verfügbar ist.
Von 1980 bis 2004 kam es in Österreich zu einem jährlichen Zuwachs neuer Patienten mit dialysepflichtigem Nierenversagen (Abb. 1). Bei den über 14-Jährigen stieg die Zahl der jährlich neuen Patienten zwischen 1980 und 2004 von 325 auf 1.355 (jährliche Zuwachsrate: 5,6%). Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der dialysepflichtigen Diabetiker von 26 auf 429 an (jährliche Zuwachsrate: 10 %). Mit steigenden Patientenzahlen sind auch die Altersmittelwerte jährlich angestiegen: Bei Nichtdiabetikern stieg der Altersmedian von 1980 bis 2010 von 45,7 auf 64,2 Jahre und bei Diabetikern (ESRD-DM) von 47,5 auf 67,0 Jahre: Im langjährigen Durchschnitt sind ESRD-DM um 3,1 Jahre älter als Nichtdiabetiker. Von 1980 bis 2000 hatten im Durchschnitt 58% der Diabetiker mit ESRD-DM einen Typ-2-Diabetes. Ab 2000 nahm das Verhältnis stetig bis auf 90% der neuen Diabetiker zu (auf die Unsicherheit der Typenzuordnung wurde bereits vorher eingegangen).
Von 2004 bis 2010 war die Zahl der Neuzugänge insgesamt gering fallend, von 1.355 auf 1.184 Personen, entsprechend einem jährlichen Rückgang der Inzidenz von 2,3%.
Die inzidenten Diabetiker haben von 2004 bis 2010 von 429 auf 355 abgenommen, entsprechend einem Minus von jährlich 3,3%.
Kennt man die Zahl der Diabetiker in der Bevölkerung (Diabetesprävalenz), kann die Inzidenz in Bezug zur Risikobevölkerung gesetzt werden. Damit können elegant auch kleinere Gruppen verglichen werden und zudem wird auch das Bevölkerungswachstum berücksichtigt.
Abbildung 2 zeigt das hohe jährliche Inzidenzrisiko für ESRD-DM bei Diabetespatienten und im Vergleich dazu das wesentlich kleinere Risiko von Nichtdiabetikern. Das Inzidenzrisiko fällt ab 2004 kontinuierlich ab. Gemittelt über den Zeitraum 20002010 betrug das maximale Risiko für Nichtdiabetiker 144 und für Diabetiker 1.192 pro Million. Bis 2010 ist das Inzidenzrisiko für ESRD-DM auf 803 pro Million Diabetespopulation abgefallen.
In den USA fiel zwischen 1996 und 2006 sowohl die unadjustierte wie auch die altersadjustierte Inzidenz um etwa 3,9% pro Jahr ab, von 343,2 auf 197,7 Fälle pro 100.000 Diabetespopulation. Im direkten Vergleich der Daten für das Jahr 2006 und bezogen auf den gleichen Nenner betrug das Inzidenzrisiko in den USA 197,7 Fälle und in Österreich 112,3 Fälle pro 100.000 Diabetespopulation; damit war das Risiko in den USA 1,76-fach größer als in Österreich. Unterschiede im Risiko sind teilweise auf Unterschiede im genetischen Hintergrund und in der Bevölkerungsstruktur zurückzuführen.
In Österreich ist das Risiko der Dialysepflichtigkeit einer 30- bis 44-jährigen Diabetespopulation 15,3-fach höher als das Risiko gleichaltriger Nichtdiabetiker. Mit zunehmendem Alter wird der Risikounterschied kleiner und ist bei den über 75-jährigen Diabetikern nur mehr 1,4-fach höher als bei Nichtdiabetikern (Tab. 2).
Abbildung 3 zeigt das 5-Jahres-Überleben inzidenter ESRD-DM-Patienten in den Jahren 1997/1998 (Periode 1) und im Vergleich dazu 2007/2008 (Periode 2). Das unadjustierte 5-Jahres-Überleben der Diabetiker betrug in Periode 1 28%, in Periode 2 dagegen 37,5%; dies entspricht einer relativen Risikoreduktion von 22% (Hazard Ratio [HR] = 0,78; 0,670,89). Nach Adjustierung von Alter, Geschlecht und zahlreichen Komorbiditäten (koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt, zerebrovaskuläre Erkrankung, periphere vaskuläre Erkrankung, Neoplasie) stieg der Überlebensvorteil der ESRD-DM in Periode 2 auf 33% (HR = 0,67; 0,570,78).
Durch das verbesserte Überleben, das auf zahlreiche Verbesserungen im Management der Patienten und bei der Nierenersatztherapie zurückzuführen ist, steigt trotz fallender Inzidenz die Zahl der prävalenten Patienten mit Nierenersatztherapie weiterhin an (Daten nicht gezeigt).
Tab. 2: Altersabhängige Inzidenzraten von Diabetikern und Nichtdiabetikern pro Million Risikopopulation (2006/2007) | |||
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Altersgruppe | Diabetes | kein Diabetes | Faktor |
15-29 Jahre | 321,9 | 24,0 | 13,4 |
30-44 Jahre | 642,7 | 41,8 | 15,3 |
4559 Jahre | 1.005,0 | 121,7 | 8,3 |
6074 Jahre | 1.378,4 | 309,6 | 4,4 |
≥ 75 Jahre | 729,9 | 514,5 | 1,4 |
≥ 15 Jahre, gesamt | 1.008,1 | 135,2 | 7,5 |
Quelle: Statistik Austria, Gesundheitsbericht 2006/2007; ÖDTR-Berechnungen |
Zunächst ist anzunehmen, dass die Zahl der Diabetiker in der Bevölkerung zunimmt. Durch geänderte Behandlungsstrategien (darunter Bewegungstherapie, Ernährung, intensivierte Diabetestherapie, Therapie der Proteinurie mit ACE-Hemmern und Angiotensinrezeptorblockern und Hochdrucktherapie, um nur einige zu nennen) könnte der Anteil der Diabetiker mit Nierenproblemen kleiner werden. Dazu gibt es Anhaltspunkte in Studien, aber für Österreich keine konkreten epidemiologischen Zahlen. Weiters wäre denkbar, dass durch das Bündel der erwähnten Maßnahmen die Progression der Nierenfunktionseinbuße verlangsamt wird. Für diese Annahme würde das ansteigende Alter neuer ESRD-DM-Patienten sprechen (Tab. 1).
Eine eingeschränkte Nierenfunktion gilt bei Nichtdiabetikern als einer der stärksten Risikofaktoren für kardiale und vaskuläre Ereignisse wie z.B. Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit, Rhythmusstörungen, plötzlicher Herztod, Schlaganfall, um einige zu nennen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies auch für Diabetiker mit eingeschränkter Nierenfunktion zutrifft und dass diese eher sterben, als dass sie die Dialysepflichtigkeit erreichen.
Wenn auch in den letzten Jahren die Zahl der inzidenten Patienten mit Diabetes mellitus an der Nierenersatztherapie abnimmt, bleibt abzuwarten, ob sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzen wird.