Digitale Patientenbegleiter – Österreich in der Aufwärmrunde

Gesundheits-Apps und digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sollen Ärzt:innen und Patient:innen das Leben erleichtern. Der Weg ist allerdings aus vielen Gründen noch steinig.

Online Arzttermine buchen, Arzneimittel einkaufen, den Menstruationszyklus und den Schlaf überwachen – das sind bisher die häufigsten Themen, warum sich Menschen Gesundheits-Apps herunterladen. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest das deutsche Marktforschungsunternehmen Research2Guidance in einer Untersuchung für das „Handelsblatt“. Allein der Menstruations- und Schwangerschaftstracker des britischen Start-ups „Flo Health“ wurde im ersten Halbjahr 2023 in Deutschland rund 500.000 Mal heruntergeladen.

Auch Apps zur mentalen Gesundheit boomen – weltweit soll es bereits mehr als zehntausend davon geben – mit einem globalen Umsatz von mehr als fünf Milliarden US-Dollar, schätzt das amerikanische Marktforschungsunternehmen Grand View Research. Die meisten funktionieren bisher hauptsächlich als Chat-Anwendung: Stellt man bestimmte Fragen, erhält man als Antwort feste Gesprächsbausteine mit fachlichen Ratschlägen, die zuvor von Fachleuten erarbeitet wurden.

Nicht jede Gesundheits-App ist eine DiGA

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind – zumindest in der Medizinwelt – in aller Munde. Doch der Markt ist noch keineswegs ausgereift und daher auch kontinuierlich im Umbruch begriffen. Denn nicht jede App ist auch eine DiGA. „Letztere sind geprüfte, sichere und CE-zertifizierte digitale Medizinprodukte“, erklärt Veronika Mikl, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Pharmazeutische Medizin (GPMed) und Digital Health Policy Lead bei Roche Austria GmbH. DiGA haben einen bestimmten medizinischen Verwendungszweck und können in den Bereichen Diagnose, Aufklärung und Therapie eingesetzt werden. Das Ziel von DiGA ist es, einen Mehrwert für Patient:innen und Ärzt:innen zu schaffen. Zur Veranschaulichung: Ein digitales Patiententagebuch, dass nicht zur Auswertung genutzt wird, ist kein Medizinprodukt und damit auch keine DiGA. Handelt es sich aber um eine App oder eine Software zur Auswertung, Erhebung und Interpretation medizinischer Daten, ist es sehr wohl ein Medizinprodukt und damit auch eine digitale Gesundheitsanwendung. Das Anwendungsgebiet kann dabei eine bestimmte Indikation umfassen, wie Diabetes, wo meist digitale Tagebücher angeboten werden, aber auch Symptom-Checker-Apps werden immer beliebter. Abgesehen davon gelten auch Applikationen, die zur Steuerung und Bedienung von als Medizinprodukten qualifizierten Geräten dienen, als digitale Gesundheitsanwendungen.


„In Österreich gibt es bisher noch keinen etablierten Prozess im Umgang mit DiGA.“

Veronika Mikl
Digital Health Policy Lead bei Roche Austria GmbH


In Deutschland werden diese unter bestimmten Bedingungen bereits von den Krankenkassen erstattet. In Österreich will die Regierung jetzt erste Schritte setzen, um DiGA im Gesundheitswesen zu nutzen.

Pilotprojekt für chronisch Kranke

ÖVP und Grüne beschlossen beim Sommerministerrat im August, dass ein Pilotprojekt zur digitalen Begleitung chronisch Kranker gestartet werden soll. So sollen etwa Menschen mit Diabetes oder Migräne einen digitalen Begleiter – etwa über eine Handy-App – erhalten, der sie im Alltag unterstützt und die Dokumentation von Symptomen ermöglicht. Die Details dazu sind allerdings noch offen. „Digitalisierung trägt dazu bei, unser Gesundheitssystem langfristig zu verbessern und gleichzeitig zu entlasten. Wir müssen nur wissen, wie wir sie am besten einsetzen. Wir haben während der Corona-Pandemie gesehen, welchen Nutzen digitalisierte Prozesse im Gesundheitsbereich bringen – für Behörden, Gesundheitsdienstleister:innen und Patient:innen gleichermaßen. Mit diesem Schwung müssen wir unser Gesundheitssystem an die Anforderungen der Zeit und im Sinne der Patient:innen anpassen“, betont Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) und gibt die Devise „digital vor ambulant vor stationär“ für den Zugang zum Gesundheitssystem vor.

Doch so einfach ist das noch nicht. Es braucht gute Anwendungen für ein modernes und effizientes Gesundheitssystem, und dafür braucht es die richtigen Rahmenbedingungen.

Boomender Markt beschäftigt ÖGK

„In Österreich gibt es bisher noch keinen etablierten Prozess im Umgang mit DiGA“, stellt auch Mikl fest. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Fragen: jene der Zulassung als zertifiziertes Medizinprodukt und jene der Kassenerstattung. „Da Gesundheit ein großer Markt ist, wird Gesundheit auch von vielen Anbietern entdeckt. Das ist generell ein Spannungsfeld, mit dem wir zu tun haben“, sagt ÖGK-Generaldirektor Mag. Bernhard Wurzer. Klar sei, dass die Digitalisierung eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre ist. Deshalb habe die ÖGK auch ein großes Digitalisierungsprogramm bis 2030 beschlossen. „Wir wollen damit von einer reaktiven Krankenkasse zu einer proaktiven Gesundheitskasse werden. Wir wollen moderner werden, mit der Zielsetzung, auch digitale Gesundheitsanwendungen anzubieten. Das können selbst gemachte oder zugekaufte sein.“ Denn, so erklärt Wurzer, wenn jede Bewegungs-App auf Kassenkosten verschrieben werden kann, sei das auch ein großes Risiko. „Deshalb wollen wir das auch für unsere Versicherten in die Hand nehmen, als Garant dafür, dass mit den Daten auch sorgsam umgegangen wird. Die Versicherten müssen die Garantie haben, dass die Daten bei uns gut aufgehoben sind, und gleichzeitig wollen wir die Services anbieten, die sich die Menschen heute auch erwarten.“ Die Zurückhaltung in der Erstattungsfrage erklärt er so: „Es muss klar sein, dass eine Anwendung einen Mehrwert hat und nicht bei allem, was auf den Markt kommt, auch sofort die Kosten übernommen werden müssen. Die nächste Generation ist voll digital, zahlt mit dem Handy, hat keine Bedenken in Hinblick auf ihre Daten und Datenschutz und einen völlig anderen Zugang.“ Die Krankenversicherung habe aber bestimmte Erwartungen und müsse hier auch auf die Sicherheit der Versicherten achten, sagt Wurzer und führt weiter aus: „Deshalb müssen wir uns dem Thema stellen, fragen, was wir anbieten wollen, und fragen, was unsere Versicherten, die Dienstgeber:innen und unsere Vertragspartner:innen wollen. Wir sind in einer Gesundheitsdatenwelt, und das ist hochsensibel.“

Ärztekammer will Lösung beim Thema Erstattung

„Es ist eigentlich ein Missbrauch von Daten – wenn wir sie nicht nutzen. Wir sind es den Menschen schuldig, dass wir Daten nutzen, um ihre Gesundheit und die Versorgung zu verbessern“, appellierte umgekehrt der Simulationsforscher Niki Popper vor dem Sommer bei einer Tagung in der Steiermark für eine raschere Nutzung digitaler Möglichkeiten. Und er versicherte, dass er keine Angst vor IT-Giganten wie Google habe. „Die haben zwar viele Daten, aber nicht die wichtigen.


„IT-Giganten haben zwar viele Daten, aber nicht die wichtigen.“

Prof. Niki Popper
Komplexitätsforscher


Deshalb wollen sie diese Filetstücke, und deshalb dürfen wir das Gesundheitswesen nicht aus der öffentlichen Hand geben. Dann sind wir Google auch mit den besseren Daten überlegen.“ Man müsse den Menschen aber erklären, welchen Nutzen sie von der Digitalisierung haben. Auch Dr. Stefan Konrad, Vizepräsident der Wiener Ärztekammer, fordert, endlich ins Tun zu kommen. In Deutschland oder Belgien würden DiGA schon von der Sozialversicherung bezahlt. Ähnlich argumentiert der steirische Hausarzt und Leiter des Referats e-Health in Ordinationen in der Österreichischen Ärztekammer Dr. Alexander Moussa: „Digitale Gesundheitsapplikationen wie in Deutschland nehmen zu. Wichtig ist, dass dieses Angebot öffentlich finanziert ist.“ Nachsatz: „Daten gehören den Patient:innen. Wir warnen davor, dass Menschen ihre Daten unbedacht weitergeben.“

Patientenzentrierte Versorgung durch DiGA

Essenziell sei in dieser Frage die Ärzteschaft, betont Sebastian Mörth vom Hersteller Medtronic: „Keine digitale Lösung der Welt kann und wird eine:n Ärzt:in ersetzen, das ist auch nicht die Intention. Es geht darum, das medizinische Fachpersonal so gut wie möglich mittels Digitalisierung zu entlasten und diesem hoffentlich auch mehr Zeit zu verschaffen. Der Fachkräftemangel und der immer weiter steigende medizinische Bedarf erhöhen den Druck auf die Healthcare Professionals natürlich sehr stark.“ Im Zentrum aller Überlegungen müsse immer die beste zeitökonomische Versorgung der Patient:innen stehen und mehr Zeit für die Behandlung ermöglicht werden, fordert Moussa. „Es ist wichtig, Daten zu einer Person zeitgerecht zu haben. Wir sollten deshalb nicht einfach Papierprozesse digitalisieren, sondern die Prozesse verbessern.“ Mörth sieht aber auch Potenziale in Hinblick auf Gesundheitskompetenz und Prävention: „Da DiGA in einem interaktiven, digitalen Prozess Patient:innen in ihrem Gesundheitshandeln stärken und die Therapiesteuerung unterstützen, sind sie für mich ein Prototyp einer patientenzentrierten Versorgungsform.“

Gesetzesänderungen erforderlich

Doch der Weg ist noch steinig und komplex. Unter anderem müssen nämlich auch das Humanmedizinrecht und das Gesundheitstelematikgesetz geändert werden. Dazu kommen weitere Regularien. In Österreich ist die AGES-Medizinmarktaufsicht für die lokale Sicherheitsprüfung zuständig, sie könnte ein Vertrauenssiegel für CE-zertifizierte Software vergeben, schlägt Mikl vor: „Mit klaren Verantwortlichkeiten und legistischer Klarheit kann das Vertrauenssiegel ein wertvoller Enabler für DiGA in Österreich sein und ein wesentlicher Schritt Richtung Erstattung.“ Über das Vertrauenssiegel soll sichergestellt werden, dass die DiGA funktioniert und sicher ist und dass sie mit der heimischen Infrastruktur kompatibel ist. Es sollte außerdem geklärt werden, in welche Kategorie sie fällt (Zielgruppe, Indikation etc.) und wie die Finanzierung sichergestellt wird. Die gesetzliche Grundlage ist hier das Medizinproduktegesetz.


„Die Devise lautet: digital vor ambulant vor stationär.”

Johannes Rauch
Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz


All diese Regelungen werden wohl auch dazu führen, dass Entwicklungen nicht von heute auf morgen auf den Markt kommen, sondern ähnlich wie bei Arzneimitteln Hürden nehmen müssen. Die erste Hürde ist die EU-Zulassung: Wer eine CE-Zertifizierung anstrebt, um beispielsweise eine App oder Software als Medizinprodukt eintragen zu lassen, braucht etwas Geduld, denn der Weg von der Erstellung bis zur EU-Konformitätsprüfung und der Zertifizierung dauert ungefähr fünf Jahre. In diesen fünf Jahren inbegriffen ist die Produktentwicklung und technische Dokumentation sowie klinische Studien für den Nachweis von Funktion, Zweck und Wirksamkeit. Die Einreichung bei einer benannten Stelle kann rund sechs Monate dauern, die Prüfung allein kann neun Monate in Anspruch nehmen. Besteht eine App alle Prüfungen, bekommt sie die CE-Zertifizierung und darf sich offiziell Medizinprodukt nennen. Erst dann geht es in Richtung einer möglichen Erstattung, was natürlich auch Preisverhandlungen beinhaltet.

Mehrere Anbieter in Deutschland insolvent

In Deutschland, das durchaus als Vorzeigeland gehandelt wird, führen diese Wege auch zu Stolpersteinen. Zuletzt gab es nämlich gleich mehrere Insolvenzen von Anbietern – vor allem weil die erhofften Erstattungen durch die Kassen niedriger ausfielen, als von Entwickler:innen und deren Investor:innen erhofft.


„Keine digitale Lösung der Welt kann und wird eine:n Ärzt:in ersetzen, das ist auch nicht die Intention.“

Mag. Sebastian Mörth
Medtronic


Ein Beispiel ist die DiGA „zanadio“, die Menschen mit Übergewicht beim Abnehmen unterstützen soll. Im Oktober 2020 war die App des Unternehmens aidhere testweise als DiGA zugelassen worden. Mit dem Wirksamkeitsnachweis im Rahmen einer klinischen Studie zertifizierte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zanadio im Vorjahr dauerhaft als DiGA – unter der Voraussetzung, dass mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen ein neuer Preis verhandelt wurde. Aidhere verlangte für zanadio 499,80 Euro pro Versicherte:n im Quartal. Weil man sich mit den Kassen nicht einigen konnte, kam ein Schiedsgericht zum Zuge und stufte die Vergütung auf 218 Euro herab. Im Mai 2023 meldete das Unternehmen Insolvenz an. Jetzt wird verhandelt, ob weitere Investor:innen die DiGA retten. Ähnliche Erfahrungen machten auch die Entwickler:innen der digitalen Gesundheitsanwendung „Rehappy“, die Patient:innen mit Schlaganfall beim Bewegungstraining unterstützen soll. In diesem Fall wurde die klinische Studie zum Nachweis der Wirksamkeit vom BfArM nicht akzeptiert. Die Folge war auch hier die Insolvenz des Unternehmens hinter Rehappy.

Sebastian Mörth wünscht sich nicht zuletzt im Hinblick auf solche Entwicklungen öffentliche Förderungen: „Technologisch herausfordernd sind sicher die Notwendigkeit einer einheitlichen Schnittstelle und die generell sehr hohen Anforderungen bei der Zulassung im Rahmen der Medical-Device-Regulation. All dies produziert enorme Kosten, was vor allem für Start-ups und KMU sehr herausfordernd sein kann.“