Aus technologischer Sicht leben wir in aufregenden Zeiten.
In den letzten zwei Jahren vergeht nahezu kein Tag, an dem wir nicht neue bahnbrechende Nachrichten über den Siegeszug der künstlichen Intelligenz (KI) hören.
Bill Gates bezeichnete diese kürzlich in einer Talkshow als die erste Technologie „ohne Limit“, und ich beginne diesen Beitrag damit, dass ich mich dieser Aussage 100%ig anschließen möchte.1
KI findet Eingang in all unseren wesentlichen Lebensaspekten und wird menschliches Erleben, Handeln und Interagieren neugestalten.
Laut einer Analyse des Unternehmens OpenAI könnten aktuell bereits 15 % aller Arbeiten durch KI (hier ist diejenige KI gemeint, die mit Hilfe der Large-Language-Modelle [LLM] entsteht) erheblich beschleunigt werden, und dieser Anteil könnte durch LLM-gestützte Software in der Zukunft auf 47–56 % steigen.2
Auch die Medizin wird von dieser Welle überrollt. Zwar bleiben die operativen Fächer wie die Urologie zunächst weniger berührt, da sich KI noch mit der Vorhersage von komplexen Bewegungen/Mustern schwerer tut als mit der Vorhersage von Wörtern in einer Satzfolge, aber die präklinischen Anfänge der KI-Nutzung im OP sind gemacht und werden hier von mir zusammengefasst vorgestellt.
Prinzipiell kann der Einsatz der KI im urologischen OP der Zukunft in Phasen eingeteilt werden: einen präoperativen, intraoperativen und übergreifenden Einsatz der KI.
In der präoperativen Phase unterstützt KI in der Indikationsstellung und personalisierten OP-Planung unter Verwendung präoperativer Daten und digital verfügbarer Biomarker. KI unterstützt dabei zusätzlich in der Komplikations- und Risikovorhersage entlang des gesamten urologischen OP-Pfades. Hung et al. entwickelten zum Beispiel ein Modell, das die Dauer des Krankenhausaufenthaltes nach einer roboterassistierten radikalen Prostatektomie mit einer Genauigkeit von 87,2 % vorhersagen konnte.3 Mehrere Studien untersuchten bereits den Einsatz verschiedener KI-Algorithmen, um die OP-Dauer vorherzusagen. Ziel dieses KI-Einsatzes ist eine Optimierung der OP- und Personalplanung sowie die Effizienzsteigerung.4 Die Genauigkeit von OP-Zeitprognosen und die Integration in moderne Berichterstattungstools wird in Zukunft das Controlling und unsere tägliche Arbeit deutlich beeinflussen.5 Die Implementierung von KI-basierten Vorhersagemodellen für die Operationsdauer könnte zu einer Verringerung der Wartezeiten und einer verbesserten Ressourcenallokation für Patient:innen führen. So konnten Tully et al. mit verschiedenen KI-Modellen Patient:innen identifizieren, bei denen das Risiko eines verlängerten Aufenthaltes in der postoperativen Intensivüberwachung besteht, wodurch die Wirksamkeit der Anpassung von Personal in Dienstzeiten der postoperativen Intensivstation simuliert werden kann.6
In der intraoperativen Phase des KI-Einsatzes sind wir noch am weitesten von der Integration in die klinische Routine entfernt, aber die präklinischen Arbeiten sind beeindruckend. KI-gestützte Bildgebungssysteme, die hochauflösende 3D-Bilder erzeugen und Strukturen erkennen, dienen der Entwicklung intraoperativer Navigations- und Planungssysteme. Optimale Operationsansätze könnten vorhergesagt werden. Amparore et al. demonstrierten den Einsatz von automatisiertem 3D-Modell-Overlapping während einer Augmented-Reality-(AR-)gestützten roboterassistierten Nierenteilresektion.7 KI-Algorithmen können die Präzision und Effizienz robotergestützter Operationen verbessern, indem sie Echtzeit-Feedback und Bewegungskorrektur liefern.
Bereits bekannt sind der Einsatz von KI-Algorithmen zur automatisierten Erstellung der Nephrometrie-Scores (u.a. R.E.N.A.L.) und Korrelation mit Tumorstadium, Tumorgrad und Tumornekrose bei Operationen des Nierenzellkarzinoms sowie intraoperative KI-gestützte Analysen zur Beurteilung der Nierenischämie bei unterschiedlichen Gefäßabklemmgraden der Nierenarterie.8, 9
KI kann intraoperativ die Endoskopie unterstützen. Studien zeigen bereits die KI-unterstützte Analyse von Zystoskopiebildern und Hilfe bei der Unterscheidung zwischen malignen und benignen Läsionen.10 KI kann die Präzision und Effizienz robotergestützter Operationen verbessern, indem diese Echtzeit-Feedback und Bewegungskorrektur liefert. Law et al. erreichten eine 100%ige Genauigkeit bei der Klassifizierung von chirurgischen Fähigkeiten, indem sie die Position des Nadelhalters und die Gelenkposition mit Parametern wie Beschleunigung und Geschwindigkeit kombinierten.11 KI-Algorithmen der Zukunft werden dabei nicht nur Geschwindigkeiten bei Operationen messen und optimieren. Die Studie von Ershad et al. zeigt, dass z.B. ein KI-basiertes Sparse Coding Framework stilistische Verhaltensweisen wie „flüssig/zäh“, „präzise/grob“, „scharf/stumpf“ messen kann und so die chirurgische Expertise beurteilt.12 Dies zeigt, dass KI nicht nur quantitative Daten, sondern auch subtilere Aspekte der chirurgischen Technik erfassen kann.Die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von KI-Entscheidungen ist aber besonders in der Chirurgie und im urologischen OP der Zukunft von Bedeutung.13 Hier können erklärfähige KI-Algorithmen, die mit Begründungen für ihre Entscheidungen arbeiten, das Vertrauen in KI-Systeme stärken und damit einen Schritt in Richtung einer rechtlichen und ethischen Verantwortlichkeit gehen.
Der Smart Tissue Autonomous Robot (STAR) ist ein hochentwickeltes chirurgisches Robotersystem, das von Forscher:innen der Johns Hopkins University entwickelt wurde.14 STAR kann laparoskopische Operationen an Weichgewebe mit minimaler menschlicher Unterstützung durchführen, und es war das erste Robotersystem, das einen chirurgischen Eingriff an Weichgewebe selbstständig planen, anpassen und ausführen konnte. Es nutzt ein strukturiertes lichtbasiertes 3D-Endoskop und einen auf KI basierten Tracking-Algorithmus. Die Entwicklung von STAR zielt darauf ab, chirurgische Eingriffe zu verbessern und konsistentere Patientenergebnisse zu erzielen. Obwohl STAR beeindruckende Fortschritte in der autonomen Chirurgie darstellt, betonen die Forscher:innen, dass es nicht dazu gedacht ist, Operateur:innen zu ersetzen, sondern sie bei präzisen, sich wiederholenden Aufgaben zu unterstützen und die chirurgische Konsistenz zu verbessern. Es ist davon auszugehen, dass sowohl die alleinige helfende Unterstützung intraoperativ (Stufe 1), teilautonome Robotik (Stufe 2) und in Teilen auch vollautonome Robotik (Stufe 3 und 4) in den KI-unterstützen urologischen OP der Zukunft Einzug halten wird.15 Dass der KI-unterstützte Roboter den gesamten urologischen Eingriff ohne menschliches Eingreifen durchführen kann, ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, aber theoretisch denkbar. Bevor Systeme mit höherer Autonomie in der klinischen Praxis eingesetzt werden können, müssen ihre Sicherheit und Zuverlässigkeit nachgewiesen werden, komplexe ethische und rechtliche Fragen geklärt werden (Haftung), Urolog:innen müssen Vertrauen in die Technologie entwickeln und bereit sein, in Zukunft die Kontrolle über bestimmte Aufgaben an eine KI-Technologie abzugeben.16,17
Im OP der Zukunft werden uns KI-Algorithmen in der Dokumentation und Evaluation urologischer Eingriffe unterstützen. Aufgaben in der Administration der OP können KI unterstützt automatisiert werden. Multimodal wird KI die urologische Operation in ein personalisiertes Gesamtkonzept der Behandlung integrieren.18 Entscheidend für den OP und bereits jetzt bekannt ist, dass KI-gestützte Simulatoren und Bewertungssysteme objektives Feedback zu urologisch operativen Fähigkeiten liefern können und den Urolog:innen in der Ausbildung helfen können, ihre Fähigkeiten schneller und effizienter zu entwickeln.19 KI-gesteuerte, personalisierte Trainingsmodule können auf die individuellen Bedürfnisse aller lernenden Operateur:innen zugeschnitten werden. Diese Module können Feedback in Echtzeit, adaptive Schwierigkeitsgrade und personalisierte Lernpfade bieten, um die Aneignung von Fähigkeiten zu optimieren. KI-Systeme können dabei kritische Metriken analysieren und gezieltes Feedback zu Bereichen geben, die verbessert werden müssen. Diese datengesteuerte Herangehensweise ermöglicht ein maßgeschneidertes Training, das auf die spezifischen Schwächen und Stärken des Einzelnen eingeht. Eine Vielzahl von Metriken wie Blutverlust, Instrumentengeschwindigkeit, Kraftanwendung und Präzision können KI-basiert verfolgt werden.20 Diese Bewertungen beseitigen subjektive Verzerrungen und bieten den Urolog:innen ein umfassenderes Verständnis ihrer Stärken und Schwächen. KI kann außerdem unterstützend dabei helfen, aus den vorhandenen weltweiten Daten Zugang zu spezifischen chirurgischen Videos, Fallstudien und anderen Lernmaterialien zu verschaffen. Dadurch wird es möglich, sich über die neuesten Techniken und Verfahren auf dem Laufenden zu halten und die Effizienz der Ausbildung zu steigern.
Die Einführung von KI-Systemen im urologischen OP ist mit verschiedenen Herausforderungen verbunden, die sowohl technischer als auch sozialer, ethischer und rechtlicher Natur sind. KI benötigt große, qualitativ hochwertige Datensätze für das Training und die Validierung. Im medizinischen Bereich, insbesondere im OP, kann die Beschaffung solcher Datensätze aufgrund von Datenschutzbedenken und der Komplexität der Daten schwierig sein. KI-Modelle, die an einem bestimmten Patientenkollektiv trainiert wurden, können in anderen Situationen möglicherweise nicht zuverlässig funktionieren.
Es ist wichtig, sicherzustellen, dass KI-Systeme im OP generalisierbar sind, um eine konsistente Leistung unter verschiedenen Bedingungen zu gewährleisten. KI-Systeme im OP sollten in Echtzeit arbeiten und Entscheidungen schnell treffen können. Verzögerungen bei der Datenverarbeitung oder der Entscheidungsfindung können sich negativ auf die Patientensicherheit und den Operationsverlauf auswirken. Die Integration von KI-Systemen in die bestehende OP-Infrastruktur, einschließlich der Robotersysteme, der Bildgebungsgeräte und der elektronischen Patientenakten, kann komplex und kostspielig sein. Im Fall von Fehlern oder unerwünschten Ereignissen im Zusammenhang mit KI-Systemen im OP ist es wichtig, klare Haftungsregelungen und Verantwortlichkeiten festzulegen. Darüber hinaus wird der Einsatz von KI im OP die Arzt-Patienten-Beziehung verändern. Es ist wichtig, sicherzustellen, dass KI-Systeme die menschliche Interaktion und die Entscheidungsfindung von Urolog:innen nicht ersetzen, sondern unterstützen und verbessern.
Für die Entwicklung, Implementierung und Betreuung von KI-Systemen im OP werden qualifizierte Fachkräfte benötigt, beispielsweise Data Scientists, Software-Entwickler:innen und KI-Expert:innen im Gesundheitswesen. KI-basierte medizinische Geräte und Systeme müssen strenge regulatorische Anforderungen erfüllen, um für den Einsatz im OP zugelassen zu werden.
Die Bewältigung dieser Herausforderungen ist entscheidend, um das Potenzial von KI-Systemen im urologischen OP der Zukunft auszuschöpfen und die Patientensicherheit, die Effizienz und die Qualität der urologischen Versorgung zu verbessern.