Künstliche Intelligenz und diabetische Retinopathie aus internistischer Sicht

Die diabetische Retinopathie ist eine der häufigsten und potenziell verheerendsten Komplikationen, die mit Diabetes einhergehen, und weltweit eine der Hauptursachen für Sehverlust. Allein in Österreich erblinden noch immer rund 200 Menschen jährlich an den Folgen von Diabetes mellitus.
Die diabetische Retinopathie ist eng mit den metabolischen Veränderungen verbunden, die bei Diabetes auftreten. Eine anhaltende Hyperglykämie führt mit der Zeit zu einer mikrovaskulären Beschädigung, insbesondere in der Netzhaut. Dies kann zur Entwicklung von Mikroaneurysmen, Blutungen und Neubildung von Blutgefäßen in der Netzhaut führen, welche die Sicht beeinträchtigen können.
Eine der Herausforderungen bei der diabetischen Retinopathie liegt darin, dass sie oft asymptomatisch verläuft, bis sie bereits weit fortgeschritten ist und ein irreversibles Ausmaß angenommen hat. Daher ist die regelmäßige Überwachung als Teil einer ganzheitlichen Versorgung für Diabetespatient:innen von entscheidender Bedeutung, um Komplikationen zu verhindern oder zu verzögern.

Regelmäßige Kontrollen empfohlen

Die aktuellen Leitlinien der Österreichischen Diabetes Gesellschaft empfehlen bei allen Diabetespatient:innen ein jährliches Screening auf mikrovaskuläre Komplikationen ab dem 11. Lebensjahr oder einer Diabetesdauer von 2 bis 5 Jahren. Hinsichtlich der Retinopathie besteht dieses aus einer Funduskopie inklusive Augendruckmessung et cetera und wird traditionellerweise von den Fachärzt:innen der Augenheilkunde durchgeführt.
Ein österreichweit einheitliches Screening-Programm, wie bereits in anderen europäischen Ländern (z. B. dem Vereinigten Königreich) etabliert, besteht derzeit nicht.
An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass eine diabetische Retinopathie sowohl erstmalig in der Schwangerschaft auftreten als auch in der Schwangerschaft fortschreiten kann. Es handelt sich dabei um die häufigste mikrovaskuläre Komplikation bei Diabetes in der Schwangerschaft, weswegen gerade in diesem Zeitraum regelmäßige Kontrollen wichtig sind.
Risikofaktoren für eine Progression sind schlechte perikonzeptionelle Blutzuckerkontrollen, lange Diabetesdauer (> 10 Jahre), eine vorbestehende diabetische Nephropathie, arterielle Hypertonie, unzureichende Vorbehandlung einer diabetischen Retinopathie sowie Nikotinkonsum und die hormonellen Veränderungen in der Schwangerschaft an sich.

Künstliche Intelligenz revolutioniert die Diagnose

In den letzten Jahren hat die künstliche Intelligenz (KI) die medizinische Landschaft in vielerlei Hinsicht transformiert – und eines der aufregendsten und bis dato ausgereiftesten Anwendungsgebiete ist sicherlich die Diagnose und Überwachung der diabetischen Retinopathie. Es besteht die Aussicht, dass die Einführung von KI-gestützten Diagnoseverfahren die Häufigkeit der Diagnose einer diabetischer Retinopathie erhöhen und Patient:innen mit dringendem Behandlungsbedarf schneller identifizieren kann.
Im Jahr 2018 wurde auf Grundlage einer populationsbasierten Zulassungsstudie das KI-basierte Screening-Modul IDx-DR (entwickelt von IDx Technologies Inc. in Coralville, Iowa, USA) von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zur Bewertung von diabetischer Retinopathie zugelassen. In den Zulassungsstudien zeigte die KI eine Sensitivität von 87,2 % (95%-Konfidenzintervall [KI]: 81,8–91,2 %) und eine Spezifität von 90,7% (95%-KI: 88,3–92,7 %). Zudem erreichte sie eine hohe Erfolgsquote bei der Bildaufnahme von 96,1 % (95%-KI: 94,6–97,3%), womit die Fähigkeit der KI zur Diagnostik der diabetischen Retinopathie in der Grundversorgung demonstriert wurde. Es benötigten 76,4 % der Teilnehmer:innen keine pharmakologische Pupillendilatation, während 23,6 % eine Pupillendilatation benötigten. Basierend auf diesen Ergebnissen hat die FDA das System zur medizindiagnostischen Verwendung zugelassen.
Das IDx-DR-System basiert größtenteils auf dem Konzept des Deep Learning (DL), wobei die angewandten Algorithmen darauf trainiert wurden, bestimmte Muster der diabetischen Retinopathie auf Fundusfotos zu erkennen.

Einsatzgebiete der KI

Diabetolog:innen spielen mittels glykämischer Kontrolle und anderer metabolischer Parameter eine Schlüsselrolle beim Management der diabetischen Retinopathie. Die Stabilisierung und Verbesserung des Blutzuckermanagements ist mitunter die wirksamste und essenziellste Maßnahme zur Entstehungsvermeidung sowie auch Verzögerung des Fortschreitens der diabetischen Retinopathie.
Die Integration von künstlicher Intelligenz (KI) in die Diagnose und Überwachung bietet hierzu ein wertvolles Instrument, insbesondere hinsichtlich folgender Aspekte:

  • Früherkennung und Prävention: KI kann selbst subtile Anzeichen von diabetischer Retinopathie erkennen, die vom menschlichen Auge oft übersehen werden können. Dies ermöglicht es, frühzeitig präventive Maßnahmen zu ergreifen, um eine Progression der Erkrankung zu verhindern. Mögliche Interventionen umfassen die Anpassung der Diabetesmedikation, die Optimierung des Blutzuckermanagements und die Empfehlung eines gesunden Lebensstils.
  • Automatisierte Bildanalyse: KI-Algorithmen sind in der Lage, Tausende von Netzhautbildern in kürzester Zeit zu analysieren. Sie können automatisch nach Anomalien suchen, die auf diabetische Retinopathie hinweisen, und die Ergebnisse für Ärzt:innen bereitstellen.
  • Effizienz und Ressourceneffizienz: Die Integration von KI in die klinische Praxis kann die Arbeitsbelastung für Augenärzt:innen reduzieren und die Effizienz steigern. Dies ermöglicht es, Ressourcen besser zu nutzen und Patient:innen schneller zu behandeln. Durch Integration der KI in ein diabetologisches Setting kann auch dem von Patient:innen gewünschten „one stop shop“ mehr Rechnung getragen werden, Patient:innen können dadurch bei pathologischem Ergebnis auch gezielter zu Fachärzt:innen für Augenheilkunde zugewiesen werden.

Praktische Erfahrungen mit KI

Es ist weithin bekannt, dass eine erhebliche Anzahl von Menschen mit Diabetes die empfohlenen Screening-Untersuchungen nicht wahrnimmt. Laut einer US-amerikanischen Studie halten etwa 40 % der Diabetespatient:innen die von der American Academy of Ophthalmology empfohlenen Untersuchungsintervalle nicht ein, sodass davon auszugehen ist, dass eine signifikante Dunkelziffer von nichterkannter oder nichtsuffizient nachkontrollierter diabetischer Retinopathie existiert.

Eine Studie an unserer Diabetesambulanz der Klinik Landstraße (Schwerpunktzentrum für Diabetologie, Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen) ergab ebenfalls, dass schätzungsweise selbst in einer Diabetesspezialambulanz knapp 40 % (rund 2/5) der Patient:innen keine regelmäßigen Kontrollen bei einem/einer Fachärzt:in für Augenheilkunde durchführen.
Im März 2021 begannen wir mittels fortlaufender Querschnittsstudie an unserer Diabetes-Ambulanz in Zusammenarbeit mit der ophthalmologischen Abteilung des AKH Wien das IDx-DR-System als Screeningmethode begleitend zur internistisch-diabetischen Routineuntersuchung einzusetzen. Mit der Erprobung des IDx-DR-Systems sollte unter anderem untersucht werden, ob KI einerseits grundsätzlich zum Screening auf mikrovaskuläre Diabetesfolgeschäden und andererseits zur Priorisierung der augenärztlichen Vorstellung an einer diabetologischen Schwerpunktklinik geeignet ist, und wo mögliche Stärken und Schwächen des Systems in der täglichen Praxis liegen.
In unserer Studie konnte bis dato eine beträchtliche – unerwartet hohe – Anzahl neu diagnostizierter Fälle von diabetischer Retinopathie detektiert werden, und dies veranschaulicht somit auf beeindruckende Weise, wie der gezielte Einsatz künstlicher Intelligenz, insbesondere durch die Anwendung von IDx-DR, eine sinnvolle Ergänzung zur herkömmlichen internistischen Betreuung vor Ort in einer Schwerpunktambulanz darstellen kann. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, die Anomalien in der Netzhaut zeigen, müssen anschließend von einem/einer Augenärzt:in bestätigt und genauer bewertet werden.

Patientenmotivation erhöhen

Die schnelle und unkomplizierte Durchführung der IDx-DR-Untersuchung könnte allgemein die Bereitschaft und Motivation der Patient:innen zur Teilnahme an den empfohlenen Screening-Untersuchungen erheblich erhöhen. Die nichtmydriatische Untersuchung ist zeiteffizient, leicht erlernbar und weniger unangenehm für die Patient:innen. Es ist daher auch leicht vorstellbar, dass die Erkennung einer milden, moderaten oder potenziell sehbedrohlichen diabetischen Retinopathie durch die IDx-DR-Analyse selbst bei symptomfreien Patient:innen die Bereitschaft zur fachärztlichen Untersuchung unter Mydriasis erhöhen könnte. Selbst das Fehlen von Untersuchungsergebnissen nach einer IDx-DR-Analyse könnte die Patient:innen zum Nachdenken anregen und ihre Motivation für zukünftige augenärztliche Kontrollen steigern. Dies zeigt das Potenzial, das die Integration von KI-basierten Screening-Verfahren für die Früherkennung und das Management von diabetischer Retinopathie bieten kann.

Herausforderungen und Zukunftsaussichten

Die diabetische Retinopathie ist eine ernsthafte Komplikation des Diabetes, die eine rechtzeitige Diagnose und Behandlung erfordert. Die Integration von künstlicher Intelligenz in die Diagnosepraxis bietet die Möglichkeit, diese Erkrankung schneller und präziser zu erkennen, was die Aussichten für die Patient:innen erheblich verbessern kann.
Für Diabetolog:innen bestehen Herausforderungen darin, sicherzustellen, dass KI-Systeme in die klinische Praxis integriert werden, und gleichzeitig die menschliche Expertise und Fürsorge beizubehalten. Datenschutz und Ethik sind weitere wichtige Aspekte, die berücksichtigt werden müssen.
Die Zukunft der internistischen Versorgung von Diabetespatient:innen mit diabetischer Retinopathie wird wahrscheinlich eine engere Zusammenarbeit mit KI-Systemen beinhalten. Diese Systeme werden dazu beitragen, präzisere Diagnosen zu stellen, den Verlauf der Erkrankung besser zu überwachen und personalisierte Therapieansätze zu entwickeln.

Resümee

Insgesamt bietet also die Integration von KI in die internistische Versorgung vielversprechende Chancen, die Gesundheit und Lebensqualität der Patient:innen zu verbessern. Die enge Zusammenarbeit zwischen Diabetologie und Ophthalmologie wird jedoch weiterhin von entscheidender Bedeutung sein, um die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten und das Fortschreiten dieser ernsthaften Komplikation des Diabetes zu verhindern.