Mehr als nur ein Gedankenspiel: Hirn-Computer-Interfaces

Es waren gerade einmal 30 Sekunden am Ende seines TED-Talks zum Thema Hirn-Computer-Interface (englisch – Brain-Computer-Interface [BCI]), in denen Tom Oxley, Gründer und CEO des in diesem Bereich sehr erfolgreichen Unternehmens Synchron, sich tatsächlich tief in die Karten blicken ließ. Bis zu dieser Stelle hatte er in beeindruckender Weise demonstriert, wie ein Patient mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) dank Synchrons Technologie mit seinen Gedanken eine Computertastatur bedienen und damit wieder kommunizieren kann. Das ist zweifellos eine nützliche, innovative Lösung für ein medizinisch bisher unlösbares Problem, gegen das nun wirklich niemand Einwände erheben könnte. Aber dann wurde es für etwa eine Minute futuristisch: „Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie schwer es ist, Gefühle auszudrücken?“, fragte Oxley und führte aus: „Sie müssen reflektieren, das Gefühl in Worte packen und die Muskeln des Sprechapparates benützen, um jemandem mitzuteilen, was Sie fühlen.“ Stattdessen wäre es doch wesentlich unmittelbarer und praktischer, wenn wir unserem Gegenüber für ein paar Sekunden unsere Gefühle direkt übermitteln könnten. „Das volle Potenzial des Gehirns wäre dann entfesselt“, so Oxley.

Recruitment für klinische Studie

Man ist versucht zu ergänzen, dass dann auch das volle wirtschaftliche Potenzial der in diesem Bereich tätigen Unternehmen entfesselt wäre. Das ist ja an sich nichts Schlimmes, aber es fällt auf, dass sich vor allem US-amerikanische Firmen im Bereich BCI im ersten Schritt durchgängig als medizinische Problemlöser von Erkrankungen wie ALS, Epilepsie oder Depression präsentieren und das künftige Riesengeschäft mit der Neurooptimierung eher ins Kleingedruckte packen. Tatsächlich sind die Erfolge, die mit dieser Technologie im medizinischen Feld schon in naher Zukunft erzielt werden könnten, gewaltig. Um den klinischen Impact und die gute Verträglichkeit seiner Technologie bei Lähmungen aufgrund von ALS, Schlaganfall oder multipler Sklerose zu dokumentieren, hat Synchron im April dieses Jahres ein Online-Register zum Recruitment von Patient:innen für eine große klinische Studie präsentiert. Bisher wurde das BCI von Synchron bei zehn Patient:innen in Australien und den USA in Hinblick auf die Verträglichkeit getestet, nun sollen es deutlich mehr sein, um schließlich die Zulassung durch die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) zu erlangen.

Stent als Sensor

Dass Synchron, übrigens mit Investments von Bill Gates und Jeff Bezos ausgestattet, hier dem großen Rivalen Neuralink von Elon Musk und den vielen anderen Unternehmen in diesem Bereich einen Schritt voraus ist, hat auch mit dem unterschiedlichen technologischen Zugang zu tun. Während Neuralink seinen Chip über einen neurochirurgischen Eingriff direkt auf der Oberfläche des Gehirns platziert hat – und es damit einem 29-jährigen von den Schultern abwärts gelähmten Mann ermöglicht hat, mit seinen Gedanken Schach am Computer zu spielen –, geht Synchron einen weniger invasiven Weg. Dessen Sensor wird nämlich als Stent über ein Gefäß zu den relevanten Hirnarealen gebracht – allerdings eben nur in die Nähe. Neuralink hat hingegen einen Sensor, der mit feinen metallischen Drähten an seiner Oberfläche einige Millimeter in das Hirngewebe gesteckt wird. Der Vorteil: Die Aufzeichnung der Signale hat eine deutlich höhere Bandbreite, was vor allem für das große Ziel, Hirnsignale direkt in Sprache oder Text zu übersetzen, wichtig ist. So eine Anwendung könnte es zum Beispiel Patient:innen mit Locked-in-Syndrom ermöglichen zu kommunizieren.

Klinge im Tofu

Je invasiver also die Methode, desto besser wirkt sie. Allerdings: „Das Hirn mag es nicht wirklich, wenn man Nadeln reinsteckt“, so Tom Oxley in seinem TED-Talk. Harvard-Wissenschafter Jia Liu hat in seinem Vortrag auf der letztjährigen Young Innovators Conference sogar gemeint: „Eine unflexible Elektrode in Hirngewebe zu stecken ist, als würde man eine Klinge in ein Stück Tofu oder Pudding schieben.“ Das Problem: Der Vorgang löst im Hirn eine Fremdkörperreaktion mit Vermehrung von Gliazellen und Schwund von Neuronen aus. Die Folge ist wiederum eine Abschwächung der neuronalen Signale, die aufgezeichnet werden sollen. Das BCI wird dadurch mit der Zeit instabil. Lius Team forscht daher an der Entwicklung von gewebeartigen elektronischen Sensoren mit einer Dicke im Nanobereich, die weich und flexibel sind und im Hirn auch längerfristig keine Fremdkörperreaktion auslösen.

Der Affe, die Roboterhand und die Erdbeere

Die zweite große Nation neben den USA, die sich der Entwicklung von Brain-Machine-Interface-Technologien verschrieben hat, ist China. Allerdings wurde hier sogar in den offiziellen ethischen Leitlinien der Kommunistischen Partei für die Entwicklung von BCI-Technologien festgehalten, dass es keineswegs nur um den medizinischen Einsatz geht. Wie das Magazin Wired in einem im April dieses Jahres veröffentlichten Artikel berichtet, heißt es dort mit erfrischender Offenheit: „Nichtmedizinische Anwendungen, wie die Verbesserung von kognitiven Fähigkeiten, wie Aufmerksamkeit und Erinnerungsvermögen, die Schlafregulierung sowie die Steuerung eines Exoskelettes sollten erforscht und unter strengen Auflagen entwickelt werden.“ So gelang es dem chinesischen Unternehmen NeuCyber NeuroTech, in Zusammenarbeit mit dem chinesischen Institut für Hirnforschung ein BCI zu entwickeln, über das ein Affe, dessen Hände gefesselt waren, mit seinen Gedanken einen Roboterarm kontrollieren kann, um damit nach einer Erdbeere zu greifen. Es geht dabei also um Anwendungen, die nicht primär in einem therapeutischen Kontext eingesetzt werden, sondern der Optimierung des Menschen, dem sogenannten Neuroenhancement, dienen. Da dies den Plänen der Kommunistischen Partei Chinas entsprechend sowohl kommerziell in der breiten Bevölkerung als auch im militärischen Kontext erfolgen soll, setzt man vor allem auf BCI, die ohne chirurgischen Eingriff außerhalb des Schädels platziert werden können.

Vom Homo sapiens zum Techno sapiens

Menschen, die in mehr oder weniger ferner Zukunft kognitiv und motorisch optimiert durchs Leben gehen, müssten es sich allerdings gefallen lassen, dass man sie mit Fug und Recht als Cyborgs bezeichnet. Welche Folgen die Entwicklung hin zum „Techno sapiens“ (Wagner P.) für das gesellschaftliche Zusammenleben hat und welche ethischen Fragestellungen sich daraus ergeben, beforscht mittlerweile ein ganzer Wissenschaftszweig. Ob eine Liebeserklärung durch digitales Übermitteln der eigenen Gefühle an die/den Angebetete:n tatsächlich wirksamer und romantischer ist, als wenn die Sprechmuskulatur ein Gedicht von Lord Byron zitiert, wird sich zeigen.