Simulation statt Tiermodell: KI im Lebenszyklus von Arzneimitteln

Künstliche Intelligenz kann in der Entwicklung, der Regulierung und der Anwendung von Arzneimitteln eingesetzt werden. Die EMA hat sich damit beschäftigt, welche Grundsätze dabei beachtet werden sollten.

Die European Medicine Agency (EMA) hat im Juli 2023 einen Entwurf für ein Reflexionspapier mit dem Titel „The use of Artificial Intelligence (AI) in the medicinal product lifecycle“ veröffentlicht. Darin werden die aktuellen Überlegungen zum Einsatz von KI zur Unterstützung der sicheren und effektiven Entwicklung, Regulierung und Verwendung von Human- und Tierarzneimitteln dargelegt. Dieses Papier liegt bis 31.12.2023 online zur öffentlichen Konsultation auf (siehe QR-Code) und befasst sich mit den Grundsätzen, die für die Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen (ML) in jeder Phase des Lebenszyklus eines Arzneimittels relevant sind: von der Arzneimittelentdeckung bis zur Einstellung nach der Zulassung. Das Reflexionspapier ist Teil der Initiativen der HMA/EMA Big Data Steering Group (BDSG) zur Entwicklung der Fähigkeiten des European Medicines Regulatory Network im Bereich der datengesteuerten Regulierung. Es wurde in Zusammenarbeit zwischen dem BDSG, dem Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA und dem Ausschuss für Tierarzneimittel (CVMP) entwickelt.

Auf regulatorische Herausforderungen vorbereiten

Anlass für das Reflexionspapier ist die rasante Entwicklung von KI. Auch Regulierungsbehörden wie die EMA sehen dadurch immer mehr Anwendungsmöglichkeiten im Bereich von Medikamenten. „KI bietet spannende Möglichkeiten, neue Erkenntnisse zu generieren und Prozesse zu verbessern. Um sie in vollem Umfang nutzen zu können, müssen wir auf die regulatorischen Herausforderungen vorbereitet sein, die dieses sich schnell entwickelnde Ökosystem mit sich bringt“, betont Jesper Kjær, Kovorsitzender des BDSG sowie Direktor des Data Analytics Centre bei der dänischen Arzneimittelbehörde. Peter Arlett, Leiter des Bereichs Datenanalyse und Methoden der EMA und Kovorsitzender des BDSG, ergänzt: „Mit diesem Papier eröffnen wir einen Dialog mit Entwickler:innen, Wissenschafter:innen und anderen Regulierungsbehörden, um Wege in die Zukunft zu erörtern und sicherzustellen, dass das volle Potenzial dieser Innovationen zum Wohle der Gesundheit von Patient:innen und Tieren ausgeschöpft werden kann.“

Großes Potenzial von KI und ML

Im dem EMA-Papier wird festgehalten, dass KI- und ML-Tools das Potenzial aufweisen, die Erfassung, Transformation, Analyse und Interpretation von Daten über den gesamten Lebenszyklus von Arzneimitteln hinweg effektiv zu unterstützen. Dies sieht auch Julia Guizani, Präsidentin des FOPI (Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie) und Geschäftsführerin von Sanofi Österreich, so und begrüßt daher den Entwurf für das EMA-Reflexionspapier: „Der Einsatz innovativer digitaler Technologien im Gesundheitswesen ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Gleichzeitig hat sich auch die Akzeptanz für digitale Methoden im Gesundheitswesen signifikant erhöht. Simulationen und künstliche Intelligenz sind wesentliche Faktoren, Medikamente noch besser und schneller für Patient:innen bereitzustellen. Genau hier kann KI unterstützen.“


„Menschliche und emotionale Intelligenz werden weiterhin erforder­lich bleiben, um Probleme zu lösen, Menschen zu führen und Innovationen zu schaffen.“

Julia Guizani
FOPI-Präsidentin und Geschäftsführerin Sanofi Österreich


Auch für Lieven Hentschel, Geschäftsführer von Bayer Austria, ist künstliche Intelligenz ein Gamechanger, „für uns bei Bayer, aber vor allem für die Patient:innen. Wir konzentrieren uns auf die Nutzung von Daten und künstlicher Intelligenz über den gesamten Lebenszyklus unserer Produkte hinweg. Unser Ziel ist dabei stets, bessere Ergebnisse für Patient:innen zu erzielen.“

KI in der Forschung

Im EMA-Papier wird festgehalten, dass KI-/ML-Modellierungsansätze im Bereich der Forschung beispielsweise eingesetzt werden können, um Tiermodelle in der präklinischen Entwicklung zu ersetzen, zu reduzieren und zu verfeinern. In klinischen Studien können KI-/ML-Systeme weiters die Auswahl von Patient:innen auf der Grundlage bestimmter Krankheitsmerkmale oder anderer klinischer Parameter unterstützen. Zudem können KI-/ML-Tools in der Datenerfassung und -analyse, die den Aufsichtsbehörden in Zulassungsverfahren vorgelegt werden, eingesetzt werden.

Auch Guizani sieht gerade im Bereich Forschung großes Potenzial von KI und ML, zum Beispiel durch Einsatz sogenannter „virtueller Patient:innen“, die ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren stark an Bedeutung gewinnen werden. Bei diesen virtuellen Patient:innen kommen Computersimulationen zum Einsatz, mit deren Hilfe Wirksamkeit und Sicherheit von Wirkstoffkandidaten abgeschätzt werden können, bevor diese in klinischen Studien mit Proband:innen geprüft werden. „Im ersten Schritt werden hier in Modellen unterschiedliche Szenarien getestet. Ausschließlich die vielversprechendsten Varianten werden anschließend in Studien untersucht. Das reduziert die Anzahl an klinischen Studien signifikant und erhöht gleichzeitig die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Entwicklung neuer Therapiemöglichkeiten“, betont Guizani. Und bei klinischen Studien könnte KI zudem mithilfe sogenannter virtueller Kontrollarme deutliche Verbesserungen bringen, so Guizani. Bisher bekommt eine Gruppe von Patient:innen in klinischen Studien zusätzlich zur Standardtherapie die zu prüfende neue Therapie. Die Kontrollgruppe bekommt zusätzlich ein Scheinmedikament. Diese Kontrollgruppe kann aber inzwischen in manchen Fällen mit bereits vorhandenen Patientendaten virtuell simuliert werden. Das ermöglicht kleinere Studien, bei denen Patient:innen nur die neue und womöglich bessere Therapie erhalten. Als Grundlage dienen Daten vergleichbarer Patient:innen, die außerhalb von klinischen Studien die übliche Behandlung erhalten haben.

KI rund um die Marktzulassung

In der Phase der Marktzulassung umfassen KI-Anwendungen laut EMA-Papier Tools zum Entwurf, zur Zusammenstellung, zur Übersetzung oder zur Überprüfung von Daten, die in die Produktinformation eines Arzneimittels aufgenommen werden sollen. In der Phase nach der Zulassung können solche Instrumente beispielsweise Pharmakovigilanz-Aktivitäten, einschließlich der Verwaltung von Berichten über unerwünschte Ereignisse und der Signalerkennung, wirksam unterstützen.

Menschenzentrierter Ansatz notwendig

Dieses breite Anwendungsspektrum von KI bringt Herausforderungen mit sich, wie z.B. das Verständnis der Algorithmen, insbesondere ihres Designs und möglicher Verzerrungen, sowie die Risiken technischer Ausfälle und die breiteren Auswirkungen, die diese auf die Einführung von KI in der Arzneimittelentwicklung und im Gesundheitswesen haben würden.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird im EMA-Reflexionspapier hervorgehoben, dass ein menschenzentrierter Ansatz die gesamte Entwicklung und den Einsatz von KI und ML leiten sollte.

Wenn ein KI-/ML-System im Zusammenhang mit der Entwicklung, Bewertung oder Überwachung von Arzneimitteln eingesetzt wird und voraussichtlich Auswirkungen auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis eines Arzneimittels hat, rät die EMA den Entwickler:innen, frühzeitig regulatorische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, z. B. durch die Qualifizierung innovativer Entwicklungsmethoden (für Humanarzneimittel) oder wissenschaftliche Beratung.