So sieht die medizinische Versorgung 2049 aus

UNIVERSUM INNERE MEDIZIN: Herr Horx, die Serie „Charité“ wirft einen Blick ins Jahr 2049. Das Solidaritätsprinzip gehört der Vergangenheit an. Der persönliche „Score“ ist Voraussetzung für eine Behandlung. Wer keine Bonuspunkte für gesunden Lifestyle sammelt, muss warten, Ältere ebenfalls. Gezeigt werden simulierte Operationen, die dann von OP-Robotern ausgeführt werden. Organe kommen aus dem Drucker, gendersensitive Behandlungen sind normal. Reine Fiktion oder doch teilweise Realität?

Horx: Die Technik ist plausibel und ja heute bereits in Arbeit. Interessant ist die „Soziotechnik“, also die Sache mit dem Score für das eigene Gesundheitsverhalten. Mit solchen brachialen Methoden würde maneinen noch größeren Aufstand entfachen als im Film. Aber der Film hat wirklich sehr plastisch und präzise ethische Dilemmata beschrieben, die sich heute bereits entfalten. Es gibt ja ein Paradox im Gesundheitssystem: Je besser und technischer die Behandlungsmethoden, desto teurer wird das Ganze. Je älter die Menschen werden – das ist ja auch ein Erfolg des Systems –, desto weniger kann man „Heilung“ erzielen. Für dieses Dilemma muss uns etwas einfallen, was das Gesundheitsverhalten der Gesellschaft verbessert. Aber nicht mit Zwang.

„Das österreichische Gesundheitssystem befindet sich in der Krise“, wie man immer öfter hört. Welche Dimension hat diese Krise vor dem Hintergrund der multiplen globalen Krisen unserer Zeit?

Heute befinden sich ja alle Systeme in der Wahrnehmung in der Krise. Aber vielleicht stoßen sie nur derzeit an ihre Möglichkeiten. Meistens wird das ja auf mangelndes Geld zurückgeführt, aber in Wahrheit geht es gar nicht so sehr darum. Es ist sehr viel Geld im österreichischen Gesundheitssystem. Aber das System ist tendenziell chaotisch, unüberschaubar, es hat zu viele Säulen und Varianten. Generell gehen wir heute in eine Gesundheitskrise hinein, weil zwar die Methoden im Krankenhaus, aber nicht die breite Volksgesundheit steigt. In den USA ist die Lebenserwartung in den letzten Jahren um über drei Jahre gesunken, in vielen europäischen Ländern stagniert sie.

Gesund zu sein bedeutet heute mehr als nur nicht krank zu sein. So lautet die WHO-Definition: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Wie müsste die zukünftige Gestaltung des Gesundheitssektors aussehen, um diesem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff gerecht zu werden?

Die WHO-Definition betrifft ja die allgemeine Lebensqualität, und die kann man nur mit Wertewandel, Engagement und einem neuen Gesundheitsbewusstsein verbessern. Das geht eben nur mit Hilfe der Gesamtgesellschaft. Da spielt die Bildung eine Rolle, aber auch Architektur, Alltagsrituale, Suchtverhalten…

Stichwort Gesundheitswesen/-versorgung: Gibt es Vorzeigemodelle oder Länder, die bereits zukunftsfit sind?

Es gibt eine Menge einzelner Best-Practice-Beispiele, und wenn man die alle zusammenfügen würde, hätte man schon einen erheblichen Fortschritt. Das bürgerorientierte System Dänemarks schafft es, humane Digitalisierung und Hochklassemedizin mit großer Akzeptanz zu verbinden. Finnland hat eine der bewegungsaktivsten Bevölkerungen, nur 4 % der Finn:innen machen keinen Sport. Die Niederlande haben ein sehr ausgefeiltes „Einschreibesystem“, das seine Kund:innen ihr Leben lang über Hausärzt:innen „monitort“ und sehr vorbeugeintensiv ist. Israel hat die effizientesten High-Tech-Kliniken und gute Telemedizin, bei verträglichen Kosten. Man kann in allen Sektoren große Sprünge machen, wenn man von anderen lernt.

An Innovationen in der Medizin und im Gesundheitswesen mangelt es nicht – von Gentherapie über Robotik bis hin zur Digitalisierung. Wird das Innovationstempo weiter zunehmen, und wie werden im Gesundheitssystem tätige Personen wie auch Patient:innen damit zurechtkommen?

Man sollte nicht zu technikgläubig sein; ich glaube der „ewig beschleunigte Fortschritt“ ist ein bisschen ein Märchen. Die sensationellen Versprechungen der technischen Medizin sind oft nicht eingetreten. Bei Krebs laborieren wir immer noch mit grausamen Chemotherapien. Der Grund ist, dass diese Durchbruchstechniken wie Gentechnik immer auch ein System dahinter brauchen, welches das ganze skaliert und bezahlbar macht. Daran arbeitet jetzt BioNTech: molekulare Krebstherapie in großem Maßstab, für Millionen Patient:innen, zu haltbaren Preisen. Die wahre Innovation liegt hier eher im Organisationsdesign. Roboter im Operationssaal gibt es, aber sie eignen sich weder zur Kostensenkung noch für alle Operationen. Es bleiben Insellösungen. Viel wichtiger ist die Ganzheitlichkeit der Medizin, ihre Verbindung zur Gesellschaft.

Als Top-Innovation gilt die künstliche Intelligenz (KI). Welche der vielen Hoffnungen und Erwartungen an die KI werden sich 2049 bestätigt, welche zerschlagen haben? Wo sehen Sie das meiste Potenzial für den Einsatz von KI im Gesundheitswesen?

Ich sehe wenig Erfolge für die KI im Krankenhaus oder im direkten Umgang mit Patient:innen, außer einiger Rationalisierung in der Verwaltung. Das ist ein Hype, und der Glaube, dass man Pflegekräfte durch Roboter ersetzen könnte, ist ein Alptraum. Digitalisierung hat viel Inselnutzen, aber erzeugt auch unaufhörlich Schnittstellen, die wieder geschlossen werden müssen. Man kann auch über-digitalisieren, das zeigt sich in den Schulen wie im Krankenhaus. Im Umgang mit Menschen ist KI eher problematisch, auch in der grundlegenden Diagnostik sehe ich keinen wahren Durchbruch. Natürlich ist es sinnvoll, Röntgen und MRT-Bilder mit KI „vorscannen“ zu lassen. Aber KI hat seine wirklich große Bedeutung in der Forschung, wo es darum geht, schneller Moleküle zu analysieren und Medikamente zu entwickeln.

Trotz KI und anderer Innovationen ist die menschliche Kompetenz eine Kern-Ressource im Gesundheitswesen. Hier erleben wir gerade einen Generationenwechsel und damit einhergehend eine Prioritätenverschiebung (Stichwort: Work-Life-Balance). Außerdem wird die Medizin zunehmend weiblich. Welche Auswirkungen wird das auf die Gesundheitsversorgung haben?

Es wäre schon schön, wenn man weniger ausgestresste Ärzt:innen hätte, die nach der dritten Nachtschicht völlig fertig sind. Und dann würden auch mehr Medizinstudent:innen in die angewandte Medizin gehen und bleiben. Arztsein ist derzeit ein lebenslanger Hochleistungssport, es sei denn, man findet Nischen, was viele österreichische Ärzt:innen auch tun. Aber im breiten Gesundheitswesen müssen wir runter von den zu hohen Arbeitsbelastungen. Wie man das macht, ist eine heikle Sache, es ist eine Mischung von vielen Faktoren: Geld, bessere Arbeitsorganisation, Immigration. Medizin ist ein Begeisterungsberuf, kein Fließbandberuf, das müssen wir wieder herstellen. Fließbänder sind sowieso out.

Zum Abschluss: Wie kann es gelingen, trotz aller Herausforderungen und Krisenpositiv in die Zukunft zu blicken? Ihr Tipp?

Aufhören zu jammern. Das reicht eigentlich schon. Und dann frisch neu denken.