Startschuss für den Wandel: die Gesundheitsreform durch die Digitalbrille

Wir erleben gerade wirklich einen Umbruch in der medizinischen Versorgung. Das ist natürlich der exponentiellen Entwicklung der Kosten im Spitalbereich geschuldet. Waren es 2012 noch 12 Milliarden Euro, so sind es 10 Jahre später schon 18 Milliarden Euro“, sagt Dr. Alexander Biach, ehemaliger Hauptverbandsvorsitzender, Vizedirektor der Wirtschaftskammer in Wien und dortiger Standortanwalt sowie ab Sommer Generaldirektor der Sozialversicherung der Selbständigen (SVS). Diese Mehrkosten treffen die Sozialversicherungen, die einen fixen Anteil ihrer Einnahmen an die Spitalstöpfe der Länder zahlen müssen, und die Länder, die in die Tasche greifen müssen, wenn die von ihnen mitfinanzierten Töpfe leer sind. Die allseits bekannten Probleme dabei: der teure medizinische Fortschritt und die hohen Personalkosten.

Daher laute der Slogan derzeit „digital vor ambulant vor stationär“, erklärt Biach das Konzept von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), der nicht zuletzt von den Sozialversicherungen in diese Richtung angestoßen wurde. „Bei kluger Steuerung der Patientenströme mit Hilfe digitaler Anwendungen können laut unseren Berechnungen bis zu 2,45 Milliarden Euro im Spitalsbereich eingespart werden –durch eine Verlagerung in den niedergelassen Bereich“, rechnet Biach im Gespräch mit DigitalDoctor vor, und er geht noch weiter: „Das große Potenzial der Digitalisierung liegt aber in der Steigerung der Eigenverantwortung. Die Patient:innen werden partizipativ besser eingebunden. Damit leben sie letztlich auch gesünder. Also wird die Digitalisierung auch die Prävention fördern.“

All das dürfte auch beim Minister (Grüne) und dem großen Koalitionspartner ÖVP gezogen haben. Denn beide Parteien sind traditionell nicht unbedingt Digitalisierungsmotoren. Die Grünen, weil in ihren Reihen viele Datenschützer:innen aktiv sind, die ÖVP, weil sie bisher transparenzscheu war und in immerhin sechs Bundesländern das Sagen über die Spitäler hat. Wohin das führen kann, hat sich in der Pandemie gezeigt, als der Bund Daten aus den Kliniken hinterherlaufen musste und meist dann nur monatealte Daten für die zeitnahe Steuerung von Corona-Maßnahmen bekam. Die Regierung begründet das in den Herausforderungen der Gesundheitsreform mit einer mangelhaften Verfügbarkeit und Vernetzung von Daten zur Steuerung des Gesundheitssystems sowie einem mangelnden telemedizinischen Angebot.


„Das große Potenzial der Digitalisierung liegt in der Steigerung der Eigenverantwortung.“

Dr. Alexander Biach, Designierter Generaldirektor der Sozialversicherung der Selbständigen


„Wesentlich sind die Datenformate. Wenn es gelingt, diese zu standardisieren und zentral zu sammeln, können aus diesen vielen Primärdaten wertvolle Kombinationen gemacht werden und so Sekundärdaten entstehen“, skizziert Biach die Stoßrichtung. Das liefere auch neue Forschungserkenntnisse und effizientere Behandlungen: „Unsere Studie zeigt, dass wir wegen schlechter Datennutzung, aber auch uneinheitlicher Datenerhebung jährlich 132 Millionen Euro an Wertschöpfung liegen lassen.“

Die Regierung will nun mit jährlich 51 Millionen Euro die digitalen Angebote im Gesundheitssystem weiterentwickeln. So sollen die elektronischen Gesundheitsakte ELGA und die Gesundheitshotline 1450 weiter ausgebaut werden. Letztere soll verstärkt die Erstabklärung bei Beschwerden übernehmen und Video-Beratungen von Ärzt:innen anbieten. Für den einfachen Einsatz von Gesundheitsapps werden außerdem die Rahmenbedingungen geschaffen. Sie sollen Symptome und Daten erfassen, etwa bei Migräne oder Diabetes, oder Menschen bei der Änderung der Lebensweise unterstützen – etwa bei einer Ernährungsumstellung. Die Diagnosecodierung wird bei allen niedergelassenen Ärzt:innen verpflichtend. Wahlärzt:innen werden an die e-card angebunden. Gesundheitsdaten, Befunde, Röntgenbilder etc. werden in ELGA gespeichert. Gesundheitspersonal kann so die Krankengeschichte besser beurteilen und Patient:innen bestmöglich behandeln.


„Wenn wir digital vor ambulant vor stationär wollen, dann muss man das mit ELGA denken.“

Stefan Sabutsch, Geschäftsführer ELGA GmbH


„Der Grundstein ist gelegt, damit Verbesserungen bei der Gesundheitsversorgung für alle spürbar werden. Jetzt geht es ans Umsetzen, damit die Maßnahmen auch dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden: bei den Patient:innen“, betont Gesundheitsminister Rauch. Entscheidungen über die Verwendung eines Großteils der Budgetmittel trifft die Bundeszielsteuerungskommission noch im ersten Halbjahr 2024. Dort sind Bund, Länder und Sozialversicherung vertreten. Sie bringen auch jeweils ein Drittel der Mittel für den Ausbau der Digitalisierung auf. Rauch: „Für mich ist klar: Um die Qualität in Österreichs Gesundheitssystem zu sichern, brauchen wir tiefgreifende Strukturreformen. Raus aus den Spitälern, rein in den niedergelassenen Bereich, viel stärker in die Digitalisierung. Genau das schaffen wir mit der Einigung. Die größte Gesundheitsreform der vergangenen Jahrzehnte bringt Verbesserungen sowohl für Patient:innen als auch für Ärzt:innen, Pflegekräfte und alle weiteren Mitarbeitenden im Gesundheitsbereich.“

Offen ist noch die Entwicklung von ELGA. „Wir streben eine umfassende, benutzerfreundliche und interoperable Gesundheitsinfrastruktur an, die den Zugang zu relevanten Gesundheitsdaten erleichtert und die Versorgung sowohl national als auch international verbessert“, erklärt ELGA-Geschäftsführer Stefan Sabutsch und hofft auf entsprechende Vorgaben des Gesetzgebers und der Bundeszielsteuerungskommission. Im Hinblick auf die von der Regierung beschlossene verpflichtende Diagnosecodierung will er etwa rasch Lösungen schaffen, wenn der Auftrag dazu erfolgt. Testprojekte dazu gibt es bereits, schildert er. „Die Codierung muss schnell und einfach gehen und einen Mehrwert für Ärzt:innen bringen. Früher war Codierung fast eine Strafmaßnahme – genau das wollen wir verhindern. Ziel ist nicht, dass es eine Statistik ist, sondern dass die Diagnosen in einem Patient-Summary auch wieder auftauchen.“ Ein Patient-Summary wäre idealerweise eine Kurzübersicht über Diagnosen, Laborwerte, Allergien und Intoleranzen, medizinische Probleme, Medikamente und durchgeführte Behandlungen. Für den ELGA-Chef ist klar: „Wenn wir digital vor ambulant vor stationär wollen, dann muss man das mit ELGA denken.“

Entgegen früherer Reformen hat die Regierung nun bereits erste Details zur Umsetzung genannt. So liegt ein Fokus auf dem Ausbau der Gesundheitshotline 1450, um eine noch effizientere und zielgerichtetere Beratung für die Bevölkerung sicherzustellen. Ein besonders ambitioniertes Vorhaben ist der Start eines umfassenden Projektes zum Thema digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Dieses Projekt zielt darauf ab, digitale Gesundheitsanwendungen zu identifizieren und zu fördern, die nachweislich dazu beitragen, die Gesundheit der Versicherten zu verbessern. Dadurch soll ein zusätzliches Gesundheitsangebot für die Versicherten geschaffen werden, das sie schnell und leichtzugänglich auf ihrem Smartphone oder Tablet nutzen können. So soll ein aktiver Beitrag zur Prävention und Gesundheit geleistet werden, sagt ÖGK-Generaldirektor Mag. Bernhard Wurzer, bei dem wichtige Fäden dafür zusammenlaufen.

Er skizziert seine Pläne so: Es werde eine sorgfältige Prüfung vorhandener Apps durchgeführt, um ihren Nutzen für die Patient:innen zu bewerten. Der geplante Prozess sieht vor, dass DiGA bei den Sozialversicherungsträgern eingereicht werden können. Dadurch sollen innovative Technologien und Ansätze aktiv gefördert werden, um einen spürbaren Fortschritt in der digitalen Gesundheitslandschaft zu erreichen. Das Digitalisierungsprogramm der ÖGK verdeutliche somit nicht nur den Willen zur Modernisierung, sondern auch die strategische Ausrichtung auf innovative Lösungen im Dienste einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle Versicherten, erklärt Wurzer. Für ihn ist klar: Das umfangreiche Digitalisierungsprogramm der ÖGK markiere einen weiteren „bedeutenden Schritt hin zu einer zeitgemäßen und effizienten Organisation“. Durch den Einsatz digitaler Anwendungen sollen auch die internen Prozesse optimiert werden.


„Die ÖGK hat es sich zum Ziel gesetzt, 2030 die modernste Gesundheitskasse Europas zu werden.“

Mag. Bernhard Wurzer, Generaldirektor Österreichische Gesundheitskasse


Das Ziel der ÖGK sei es, Digitalisierung auf allen Ebenen möglich zu machen – für Versicherte, Vertragspartner:innen sowie Dienstgeber:innen. Digitalisierung biete auch im Gesundheitswesen große Erleichterungen, etwa durch die elektronische Gesundheitsakte, das e-Rezept oder die Anwendung von Telemedizin. Die grundlegende Idee bestehe darin, die Digitalisierung gezielt dazu zu nutzen, um Abläufe zu verbessern und die Qualität der Gesundheitsversorgung nachhaltig zu steigern. Ein zentraler Fokus liegt dabei auf der intelligenten Nutzung von Daten zur Förderung der Gesundheit der Versicherten. „Die ÖGK hat es sich zum Ziel gesetzt, 2030 die modernste Gesundheitskasse Europas zu werden. Die Versicherten sollen proaktiv auf Präventionsmaßnahmen und Gesundheitsangebote hingewiesen werden. Dazu sollen auch innovative und niederschwellige digitale Anwendungen entwickelt werden, die einen echten Mehrwert für die Versicherten schaffen“, betont Wurzer.

Alexander Biach sieht aber auch noch viel Basisarbeit zu leisten. Denn damit digitale Anwendungen wie DiGA zu Behandlung, Monitoring, Diagnose und vor allem für die telemedizinische Versorgung über die Distanzen hinweg ausgebaut werden könnten, müssten auch die entsprechenden Bandbreiten und Ausstattung forciert werden. „Das kann dann eine starke Entlastung des gesamten Gesundheitssektors bedeuten, die Qualität der Betreuung steigern – mehr Zeit für die Patient:innen ermöglichen – und auch die Patientenströme richtig steuern.“ Natürlich sollen einheitliche technische Standards gesetzt werden, meint Biach: „Das gelingt sehr gut, wenn 1450 auch als App oder Online-Anwendung ausgestaltet wird. Wie die persönliche Ansprache am Telefon erfolgt, kann regional ausgeprägt bleiben. Wesentlich ist aber, dass die Daten, die beim Kontakt mit 1450 erhoben werden, in ELGA eingespielt werden können, denn damit kann der/die Ärzt:in, an den/die die mit 1450 beratenen Patient:innen verwiesen werden, die Patient:innen optimal übernehmen. Man weiß auch, ob der/die Patient:in der Empfehlung von 1450 gefolgt ist oder zu einem/einer anderen Ärzt:in gegangen ist, als per 1450 empfohlen wurde.“

Dass umgekehrt vor allem Ärzt:innen in Sachen Digitalisierung skeptisch sind, denkt Biach nicht: „Ärzt:innen fürchten sich nicht vor Digitalisierung. Sie haben oft einfach zu wenig Zeit, sich mit diesen Angeboten zu beschäftigen und die aufwändigen Umstellungen vorzunehmen. Sie wollen für die Patient:innen da sein und sich nicht mit Dateneingaben und sonstigen oft sinnlos erscheinenden Aufgaben auseinandersetzen.“ Deswegen müsse es so sein, dass die Digitalisierungsprozesse mit so wenig Aufwand wie nur möglich bei der Umstellung verbunden sind. „Wir haben das schon oft gesehen, bei der Einführung dere-card oder beiELGA-Anwendungen wie der E-Medikation. Letztlich wissen die Ärzt:innen, dass sie mit guten digitalen Anwendungen die Patient:innen auch außerhalb der Ordinationstermine betreuen können und dass sie durch die digitale Begleitung wichtige Informationen bekommen, um die Patient:innen noch besser zu betreuen.“