Therapeutische Möglichkeiten digitaler Gesundheitsanwendungen („DiGAs“) in der Onkologie

DiGAs haben in anderen Bereichen bewiesen, dass sie Patient:innen unterstützen können, ihre Erkrankung als weniger belastend wahrzunehmen. Sie könnten auch in der Onkologie mit Erfolg breiter eingesetzt werden.

Unter „digitalen Gesundheitsanwendungen“ (kurz: DiGAs) versteht man digitale Dienste, die von Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen per Rezept verordnet werden können und konservative Therapieansätze umsetzen. Die umgangssprachliche Bezeichnung „Apps auf Rezept“ für DiGAs vermittelt intuitiv, was sie sind und was nicht: DiGAs sind weder Life­style-Apps, die man sich selber aussucht, noch telemedizinische Dienste, intelligente Implantate oder Anwendungsprogramme zur Unterstützung der diagnostischen oder therapeutischen Arbeit von Gesundheitsfachpersonen. Vielmehr sind es auf Daten und Software basierende Dienste, die nach ärztlicher Verschreibung von Patient:innen zum Selbstmanagement ihrer Krankheit verwendet werden, auf Geräten der Patient:innen laufen und sich unter deren Kontrolle befinden. Sie dienen also der aktiven Teilnahme der Patient:innen an der Therapie.

Drei verfügbare Onkologie-DiGAs in Deutschland

In Deutschland können DiGAs von Ärzt:innen verordnet werden, wenn sie nach dem Durchlaufen von Prüfverfahren in das offizielle DiGA-­Verzeichnis1 entweder vorläufig oder dauerhaft aufgenommen wurden. Die meisten der aktuell 57 verfügbaren DiGAs gibt es für die Behandlung psychischer Erkrankungen (45 %). Für die Onkologie sind derzeit drei DiGAs zur Brustkrebstherapie verfügbar. Die Techniker Krankenkasse (TK) berichtete am 6. Digital Health Symposion in Wien, dass in den ersten dreieinhalb Jahren (bis zum 12. 04. 2024) ca. 13,5 Erstattungsanträge pro 1.000 Versicherten bei ihnen gestellt wurden. Etwa die Hälfte davon betraf fünf DiGAs, die für die Behandlung von Rückenschmerzen, chronischem Tinnitus, Adipositas (2 DiGAs) sowie Schlafstörungen eingesetzt werden.² Dies vermittelt den Eindruck, dass DiGAs an sich ein Konzept mit substanzieller Akzeptanz in der Ärzteschaft sind, in der Onkologie aber vorläufig keine größere Bedeutung haben.

DiGA-Funktionalitäten

Welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es für DiGAs in der Onkologie, wenn wir mögliche DiGA-Funktionalitäten für die Lösung therapeutischer Probleme einsetzen? Informationen zu den möglichen Funktionalitäten von DiGAs liefert das DiGA-Verzeichnis, konkret insbesondere die dort angeführten „Informationen für Fachkreise“ und „Gebrauchs­anweisungen“ jeder einzelnen DiGA sowie ergänzende IT-Design-Überlegungen. Daraus ergibt sich: Grundsätzlich können DiGAs drei Klassen von Funktionalitäten gut anbieten:

  1. eine personalisierte Informations- und Wissensbereitstellung und einen interaktiven Dialog;
  2. ein Aufzeichnen von selbst gemessenen Biodaten und des Befindens, die Durchführung von Selbsttests sowie eine erste Auswertung all dieser Informationen;
  3. die Planung des eigenen Therapiepfades und aller ergänzenden Maßnahmen des Gesundheitsselbstmanagements.

Inhaltlich kann die erste Klasse von Funktionalitäten folgendes umfassen: Informationen über die Krankheit inklusive didaktischer Elemente (z. B. Wissensquiz), Anleitung zur Befolgung der Therapie, Vorschläge für darüber hinausgehendes, aktives Selbstmanagement der eigenen Gesundheit, Vorschläge für konkrete therapeutische Praktiken inklusive einer Anleitung für diese, Triggern von Praktiken durch proaktive Kommunikation sowie die Ad-hoc-­Interaktion in kritischen Situationen.

Die zweite Klasse von Funktionalitäten kann dazu genutzt werden, Hinweise auf neue Erkrankungen zu generieren, Patient:innen Feed­back zu ihrem Therapieverlauf und ihrer Therapietreue zu geben, den Ärzt:innen und Gesundheitsfachpersonen die Essenz dessen, was die Patient:innen erlebt haben, zu berichten sowie die gemessenen Daten an SW-Applikationen den Gesundheitsfachpersonen weiterzugeben.

Die dritte Klasse von Funktionalitäten ist häufig mit eingebaut in andere, sollte mit den Informationssystemen der Behandlungsinstitutionen vernetzt werden und ermöglicht ein Selbstmanagement des eigenen Patient:innenpfades. Offen ist derzeit, ob auch eine vierte Funktionalitätsklasse, die Organisation sozialer Aktivitäten, die nur durch die Nutzung einer ganzen Community Wirkung entfalten, als „DiGAbel“ anerkannt werden kann. Sie wäre unter anderem für ein Social Prescribing3 wichtig.

Von den Funktionen adressierte Aspekte

Die drei Klassen von Funktionalitäten adressieren die Erhöhung von Informiertheit und Adhärenz der Patient:innen, das aktive Selbstmanagement, die Unterstützung der Kommunikation mit Ärzt:innen und anderen Gesundheitsfachpersonen, die Früherkennung neuer Erkrankungen, die sinnvolle Überbrückung von Wartezeiten und die Verbesserung des subjektiven Befindens respektive Erlebens der Erkrankung(en). Bei letzterem geht es unter anderem um die belastenden Symptome und Folgewirkungen der Erkrankungen, um Nebenwirkungen der Therapie, um psychische Belastungen, Müdigkeit, Angst oder Depression, aber auch um die eigene positive Weltsicht und die Mobilisierung eigener Gesundungsressourcen oder Anpassungsfähigkeiten.

Über DiGAs entscheiden Patient:innen

Alle hier aufgezählten adressierten Aspekte sind für onkologische Therapien relevant und können helfen, dort auftretende Probleme zu lösen. Insbesondere eine bessere Unterstützung des Selbstmanagements wird seit längerem gefordert.4 Es liegt aber in der Natur der Sache, dass die Nützlichkeit der skizzierten Funktionalitäten nicht systematisch wissenschaftlich belegt ist, da DiGAs Werkzeuge für Patient:innen und nicht für Fachpersonen sind und ihre Funktionsweise über die Standardtherapien hinausgeht. Wie sich Patient:innen DiGAs aneignen, hängt stark von der subjektiven Krankheitssituation, der persönlichen Lebenssituation und dem kulturellen Kontext der Patient:innen ab und kann deshalb weitgehend nur von ihnen selbst entschieden werden. Eine umfassende Standardisierung des persönlichen Gebrauchs, die eine systematische Wirkungsevaluation ermöglicht, würde der Design­logik widersprechen. Zwar gehören standardisierte Aspekte wie die Adhärenzmessung zu einer wirksamen Therapieunterstützung, aber auch nichtstandardisierbare Elemente wie der Umgang mit der eigenen Erkrankung. Hinter dem Design von DiGAs steht deshalb meist auch ein Menschenbild, typischerweise etwa die Überzeugung, dass sich die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit positiv auswirkt. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, darüber gibt es keinen fachlichen Konsens.

Mika-App: aus DiGA-Verzeichnis gelöscht

Allerdings wurde kürzlich gezeigt, dass die Mika-App für Krebspatient:innen, die 2022 aus dem DiGA-Verzeichnis gelöscht wurde, die psychische Belastung von Krebspatient:innen signifikant reduzieren und deren Symptome von Angstzuständen, Depressionen und Müdigkeit weiter lindern kann. Dieses Ergebnis ist kompatibel mit dem Erfolg von DiGAs bei der Behandlung in der Psychiatrie als Teil von Blended-Care-Therapien.6 Die Mika-Studie ist auch ein Beitrag zum grundsätzlichen wissenschaftlichen Diskurs darüber, ob das Führen eines Symptom-Tagebuchs oder Rapports durch die Patient:innen nützliche Effekte hat und welche diese sind. Die vorhandenen Studien legen eine relevante Wirkung nahe7, 8, beispielsweise konkret für die Reduzierung von Müdigkeit von Krebspatient:innen9, bislang fehlt aber belastbare Evidenz dafür. Die Mika-App bietet Tagebuchfunktionalitäten, die erwähnte Studie zur Mika-App untersuchte aber ihre Wirkung als Ganzes und nur über einen Zeitraum von 12 Wochen.

PINK!Coach im DiGA-Verzeichnis

Die Resultate der Studie und die dauerhafte Aufnahme der Onkologie-DiGA-App „PINK! Coach“ in das DiGA-Verzeichnis legen trotzdem nahe, das Potenzial von DiGAs in der Onkologie weiter auszuloten. Dabei sollte man erstens von den realen Problemen der Versorgung und des Erlebens der Erkrankung(en) während der Therapie(n) durch die Patient:innen ausgehen, zweitens experimentell – und zusammen mit allen in die spätere Nutzung Involvierten – untersuchen, wie die skizzierten Funktionalitäten diese reduzieren helfen, um drittens zu einem situativen Design zu kommen, das ein großes Maß an Anpassung an die konkreten individuellen Bedürfnisse von Nutzer:innen und ein datenschutzkonformes Sammeln von Daten zur App-­Nutzung ermöglicht – letzteres, um die Datengrundlage für ein regelmäßiges Überarbeiten der App zu schaffen, denn Software altert schlecht. In Nischen wie DiGAs ist dies zwar weniger ein Problem als in der komplexen Applikationslandschaft eines Spitals, aber auch für DiGAs gilt: Wir müssen die Nutzungsdaten zur Verbesserung der DiGAs nutzen!

Der vierte Schritt ist die ganzheitliche Erfolgsmessung: Neben dem quantitativen Erfassen der Wirkung gehören dazu auch die ethnografische qualitative Forschung („rich small data“!) und die Analyse der durch die Nutzung generierten Daten („rich data analytics“!), vorzugsweise zusammen mit weiteren in der Behandlung generierten Daten.

Referenzen: (1) DIGA-Verzeichnis: https://diga.bfarm.de/de (2) Bredl C, Vortrag am 6. Digital Health Symposion (2024); https://digitalhealth.co.at/ (3) Bickerdike L et al., BMJ Open 2017; 7(4):e013384 (4) Howell D et al., J Natl Cancer Inst 2021; 113(5):523–31 (5) Springer F et al., J Med Internet Res 2024; 26:e51949 (6) Bielinski L et al., Die Psychotherapie 2021; 66:447–54 (7) Basch E et al., JCO 2016; 34(6):557–65 (8) Basch E et al., JCO 2021; 39(7):701–3 (9) Milzer M et al., Supportive Care in Cancer 2022; 30:10213–21