Welche Patienten mit welchen Erkrankungen sind es, die Ihrer beider Expertise bedürfen? – Sei es zuerst rheumatologisch und dann orthopädisch, oder umgekehrt?
Machold: Typische Rheumapatienten, die den Orthopäden in der Folge brauchen, sind einerseits jene mit schlecht einstellbarer Polyarthritis, andererseits jene, die bereits Destruktionen haben, weil sie nicht gut eingestellt werden konnten. Diese Patienten sollten rasch zum Orthopäden überwiesen werden, da bei funktionellen Störungen oft relativ bald auch ein rekonstruktiver Eingriff oder Gelenkersatz erforderlich ist.
Ebenso sollten auch jene Patienten, die aufgrund der Entzündung starke funktionelle Einschränkungen haben, relativ rasch dem Orthopäden vorgestellt werden, damit dieser über die Indikation für eine Intervention, z. B. für eine Frühsynovektomie oder sehnenerhaltende Eingriffe, entscheiden kann.
Wie viele Rheumapatienten brauchen heute, wo Sie mit den Biologika sehr wirksame Therapien zur Verfügung haben, noch eine chirurgische Intervention?
Zenz: Ich kann es nur mit eigenen Zahlen beantworten: In der Zeit vor den modernen Medikamenten waren 10–15 % unserer chirurgisch betreuten Patienten Rheumapatienten, heute sind es 5–8 %. D. h., die Zahl derer, die orthopädisch-chirurgisch behandelt werden müssen, ist um die Hälfte gesunken. Vor allem gelenkerhaltende Eingriffe (Synovektomien), die wegen massiver Schwellungen gepaart mit unglaublich beeinträchtigenden Schmerzen erforderlich waren, sind weit seltener indiziert. In den Vordergrund treten Spätfolgen an den Gelenken, die mit rekonstruktiven Eingriffen behandelt werden.
Wann braucht der Orthopäde den Rheumatologen?
Zenz: Zu uns in die Ordinationen bzw. Ambulanzen kommen Patienten, die am Bewegungsapparat Schmerzen haben. Unter diesen befinden sich natürlich auch Patienten, die eine noch nicht diagnostizierte rheumatische Erkrankung haben. Wann immer dieser Verdacht im Raum steht, überweist daher der Orthopäde – zumindest hier in Wien, wo wir ein gutes Netzwerk zwischen Rheumatologen und Orthopäden haben – den Patienten zur Diagnoseabsicherung und gegebenenfalls natürlich zur Therapieeinstellung zum Rheumatologen.
Um welche Erkrankungen geht es hier?
Zenz: Es geht zum einen um die rheumatoide Arthritis, zum anderen natürlich auch um den entzündlichen Wirbelsäulenschmerz, der nach Schema behandelt wird und z. B. auf NSAR alleine und physikalische Maßnahmen und Gymnastik nicht anspricht – und um alle seltenen Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises: Kollagenosen, Sicca-Syndrom etc. Ich glaube, dass Patienten mit unklarer Arthritis, wenn es nicht offensichtlich ein Reizzustand an einem abgenützten Gelenk ist, vom Orthopäden relativ rasch und niederschwellig dem Rheumatologen vorgestellt werden, weil wir die Breite der Differenzialdiagnosen – von der einfachen reaktiven Arthritis bis hin zu einer ganz seltenen Monarthritis im Rahmen einer Kollagenose oder eines sonstigen seltenen Geschehens – nicht haben.
Machold: Die Differenzialdiagnose unklarer Arthritiden sehe ich auch nicht als Aufgabe des Orthopäden! Die internistische Abklärung ist unsere Aufgabe, umgekehrt geht es uns ähnlich bei orthopädischen Fragestellungen, etwa der Gelenkmechanik, hier hat der Orthopäde einfach mehr Fachkompetenz.
Sehen Sie die jeweiligen Patientengruppen rechtzeitig? – Nicht nur individuell, sondern für die Fachrichtung gesprochen?
Machold: Das muss man differenzierter sehen. Rechtzeitig sehen wir sicher die chronische Polyarthritis. Ich glaube, jeder Orthopäde kennt die klassische Ausprägung – symmetrische Gelenkschwellung mit Steifigkeit, hohe Entzündungszeichen – und überweist die Patienten.
Kompliziert wird es bei manchen Erkrankungen, die ja auch auf die orthopädische Therapie sehr gut ansprechen, ich denke da an die Polymyalgia rheumatica, eine relativ häufige und häufiger werdende Krankheit. Hier kommt es oft zu Verzögerungen, die eigentlich nicht notwendig sind. Die Schwierigkeit für den Orthopäden besteht natürlich darin, dass diese Krankheit die typische orthopädische Klientel betrifft: ältere Menschen mit degenerativen Veränderungen, die ohnehin wegen chronischer Schmerzen in Behandlung sind und plötzlich eine Polymyalgie entwickeln. Hier wünschen wir uns, dass uns diese Patienten früher vorgestellt werden.
Ein weiteres großes Anliegen ist uns der entzündliche Rückenschmerz. Dieser ist im Vergleich zum chronischen unspezifischen Rückenschmerz zwar relativ selten. Hier sehen wir bei praktischen Ärzten und auch anderen Fachrichtungen leider immer noch massive Verzögerungen – trotz aller Aufklärungsmaßnahmen der letzten Jahre.
Gibt es etwas, worauf die Orthopäden beim Rückenschmerz besonders achten sollten?
Machold: Der entzündliche Rückenschmerz muss gezielt erfragt werden! Leider ist dafür oft in einer überfüllten Kassenordination oder Ambulanz einfach nicht die Zeit. Der Orthopäde macht primär ja das Richtige, infiltriert und verordnet Physiotherapie, nur dann geht es oft nicht weiter. Man enthält dem Patienten damit oft über Monate, wenn nicht Jahre eine Diagnose vor, die – früher gestellt – vielleicht eine andere Konsequenz hätte. Die typischen Verknöcherungen bei der ankylosierenden Spondylitis sind zwar oft auch erst nach Jahren zu sehen, mit rechtzeitiger Behandlung mit modernen Medikamenten könnte man sie aber weitgehend verhindern.
Hr. Prim. Zenz, sehen Sie als Orthopäde jene Patienten mit RA rechtzeitig, die eine orthopädisch-chirurgische Intervention brauchen?
Zenz: Ich sehe zwei Aspekte: Zum einen betrachten wir den Patienten aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und jeder läuft dabei Gefahr, etwas zu übersehen. Der Rheumatologe betrachtet eher das Gesamtbild, Rheuma-Score, Entzündungswerte, Remission etc. Aber er schaut vielleicht das eine oder andere Gelenk nicht spezifisch an … Unter Umständen kann aber in einem einzelnen Gelenk eine Funktionsstörung oder ein Gelenkschaden vorliegen, auch wenn das Gesamtbild immer gut ist!
Der zweite Aspekt ist, dass es unter den derzeitigen Behandlungsregimen den Patienten zwar sehr gut geht, auch wenn das eine oder andere Gelenk nicht komplett anspricht. Diese Gelenke schauen aber unter den Therapien anders aus, als wir es gewohnt waren, das sind nicht mehr „die“ typischen geschwollenen Gelenke.
Wie sehen diese betroffenen Gelenke unter Biologikatherapie denn aus?
Zenz: Ich glaube, dass die schleichende Synovitis unter Biologikatherapie wahrscheinlich ein ganz anderes Gesicht hat, als sie es früher hatte. – Auch wir Orthopäden sehen Rheumapatienten und denken auf den ersten Blick, welch tolle Hände er hat. Untersucht man dann Gelenk für Gelenk, bemerkt man u. U. eine nur geringe Schwellung, erst im Röntgen zeigt sich dann schon ein fortgeschrittenes Stadium. Es kann also sein, dass ein Gelenk trotz geringer klinischer Symptomatik bei genauem Hinsehen schon als operationswürdig eingestuft werden muss. In Wahrheit sind manche Gelenke vielleicht schlechter, als wir von außen annehmen.
Es wäre daher wichtig, wenn Rheumatologen die Patienten öfter bzw. auch früher abklären lassen, ob aus rheumachirurgischer Sicht schon Handlungsbedarf besteht.
Machold: Es ist bemerkenswert, dass wir das Gesicht der Erkrankung schon vor der Biologika-Ära, aber insbesondere natürlich durch die Biologika dramatisch verändert haben. Die Betroffenen werden älter, weil die gesamte systemische Komponente der Erkrankung sehr gut blockiert und das damit verbundene Risiko für progrediente Gefäß- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduziert wird.
In Zukunft werden wir immer mehr ältere Patienten sehen, deren chronische Polyarthritis gut kontrolliert ist, die aber einerseits altersbedingt, andererseits durch die Vorschäden doch wieder den Rheumachirurgen brauchen. Auch ich denke, dass wir von den klassischen Bildern wegkommen müssen. – Ein Aspekt, der in Zukunft auch schon in der Ausbildung stärker verankert werden sollte.
Wann soll Ihnen der Rheumatologe einen Patienten schicken? Wo muss er hellhörig und wachsam sein?
Zenz: Wenn heute eine Therapie greift, dann greift sie, und der Rheumatologe braucht den Orthopäden eigentlich nicht, weil es sehr rasch zu einem Sistieren aller Symptome kommt. Greift sie aber nicht, dann wird von der Basistherapie auf ein Biologikum gewechselt, dann wird ein weiteres probiert und so weiter. Und irgendwann in dieser Kaskade verliert man den Zeithorizont, irgendwann sind 1,5 Jahre vergangen … Meine Botschaft an die Kollegen lautet daher: In der Zeit, bis endlich ein Therapieansprechen erzielt wird, können Gelenke jedoch kaputt gehen! In solchen Fällen wäre es wichtig, den Patienten zum Orthopäden zu überweisen, der vielleicht 1 oder 2 Gelenke synovektomiert. Nachher kann ja das nächste Biologikum gegeben werden.
Mein zweites Anliegen ist, dass auch unter einer offensichtlich erfolgreichen Behandlung die Gelenke einzeln untersucht werden müssen, auch bei Patienten, die vom Gesamtbild, vom Score, den Entzündungswerten und der subjektiven Beurteilung her sehr gut eingestellt sind.
Machold: Es ist sicher wichtig, dass wir Rheumatologen nicht nur ein Biologikum nach dem anderen geben, sondern auch die Biomechanik im Auge behalten. Dazu brauchen wir aber auch die Orthopäden, denn diese sind einfach die Biomechaniker!
Zenz: Bei den meisten degenerativen, abnützungsbedingten Krankheitsbildern ist es der Patient, der aktiv nach einer Operation fragt. Diese stellt ja in der Regel nicht die Erstmaßnahme dar. Es gibt jedoch eine Konstellation in der Anfangsphase des Rheumas, bei der man den Patienten rechtzeitig von der Notwendigkeit der Synovektomie überzeugen muss – nämlich rechtzeitig, bevor die Sehnen reißen oder der Knorpelschaden manifest wird. Denn ist die Sehne einmal rupturiert, dann bleiben auch nach Operation immer Defizite zurück. D. h., hier muss der Patient aufgeklärt werden, dass Zeit verloren wird!
Müssen Basistherapien zwingend vor der Operation abgesetzt werden?
Zenz: Früher wurde immer alles abgesetzt, heute sieht man es differenzierter. Wir haben natürlich gerade bei den großen Operationen und der Implantation künstlicher Gelenken Angst vor Infektionen. Alles, was die Abwehr hemmt – und das sind natürlich auch Basistherapeutika, v. a. aber Biologika – stellt ein potenzielles Risiko dar. Wenn ein Patient weiß, dass er ohne Basistherapie sehr rasch Schübe bekommt, dann hat es keinen Sinn, eine Basistherapie abzusetzen, weil dann postoperativ Kortison gegeben werden müsste, um das Schubgeschehen unter Kontrolle zu bekommen. Und hohe Kortisondosen sind für die Infektionsgefahr wahrscheinlich das Schlimmste.
Wir haben daher gelernt und treffen heute sehr individuelle Entscheidungen. Dabei frage ich den Patienten nach seinen Erfahrungen beim Ansetzen der Basistherapie, weiß er es nicht, halte ich auch mit dem Rheumatologen Rücksprache. Wenn es klinisch möglich und angezeigt ist, wird ein Biologikum 2 Halbwertszeiten vor dem OP-Termin abgesetzt.
Machold: Ich würde sagen, die Regel hat sich nur umgedreht. Früher war die Regel, Basistherapeutika abzusetzen. Heute ist die Regel, Basistherapie weiterzuführen. Bei Biologika lässt sich meist das Dosierungsintervall nutzen: Wird die Operation gegen Ende des Dosierungsintervalls terminisiert, geht es sich damit oft aus, dass nach 10–14 Tagen, wenn die Wundheilung abgeschlossen ist, wieder begonnen werden kann. Und muss eine Dosis ausgelassen werden, ist das machbar, solang MTX weitergegeben wird. Diese Akutschübe, die dann hoher Kortisondosen bedurften, sehen wir damit eigentlich auch nicht mehr.
Sie haben vorhin auf die guten Netzwerke in Wien hingewiesen; wie beurteilen Sie die Situation in den Bundesländern?
Zenz: Die Dichte an Fachärzten mit Additivfach Rheumatologie ist teilweise sehr gering. In gewissen Regionen gibt es sehr wenig internistische und noch weniger orthopädische Rheumatologen. Natürlich haben wir viele engagierte Fachärzte auch ohne Additivfach, die die Patienten sehr gut betreuen, in manchen Regionen muss aber leider ohne Zusammenarbeit gearbeitet werden.
Überweisen Sie als Rheumatologe zu jedem Orthopäden, oder sind das ausgewählte Rheumaorthopäden?
Machold: Nein, ich würde keinesfalls einen entzündlich-rheumatischen Patienten zu jedem Orthopäden überweisen, das braucht eine ganz spezielle Expertise! Da muss man „bündeln“ – z. B. empfehle ich Patienten in der Ambulanz oder aus der Ordination nur maximal ein halbes Dutzend der etwa 300 in Wien tätigen Orthopäden.
Zenz: Es gibt ja auch um ein Vielfaches mehr Patienten, die mit Abnützungserkrankungen zu behandeln sind. Die rheumatischen Krankheitsbilder sind etwas ganz Eigenes, und Rheumapatienten sind – bedingt durch ihre Krankheit – in vielerlei Hinsicht anspruchsvolle Patienten. Ein Orthopäde, der darauf nicht spezialisiert ist, hat die Expertise nicht.
Wie viele Orthopäden sind spezialisiert?
Zenz: Von den etwa 650 Fachärzten für Orthopädie in Österreich haben ca. 60 das Additivfach Rheumatologie, und vielleicht sind es noch einmal 60, die sich in einem rheumaorthopädischen Umfeld bewegen oder auf einer rheumaorthopädischen Abteilung ihre Ausbildung gemacht haben.
Es gibt aber sicher zu wenig Kassenstellen sowohl bei den Rheumatologen als auch bei den spezialisierten Rheumaorthopäden.
Haben Sie besondere Wünsche?
Machold: Weder soll mit der Zuweisung zum Orthopäden noch mit der Zuweisung zum Rheumatologen – v. a. auch aus dem Bereich der Allgemeinmedizin! – zu lange gewartet werden. „Aggressives Zuwarten“ kann zwar manchmal die beste Methode sein, allerdings gehört dazu die notwendige Expertise.
Das Gespräch führte Susanne Hinger, MedMedia.