Das sexualmedizinische Engagement der Präsidentin und Mitbegründerin der erst vor wenigen Jahren gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Sexualmedizin und Sexuelle Gesundheit (ÖGFSSG), ao. Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder, hat als beruflichen und initiierenden Hintergrund, dass sie als Internistin häufig mit Sexualfunktionsstörungen als Komorbidität bei internistischen Erkrankungen konfrontiert war. In ihrer weiteren wissenschaftlichen und beruflichen Beschäftigung mit dem Thema hat sie sich fundierte Kompetenzen erworben, u. a. durch eine eineinhalbjährige Ausbildung für das „Europäische Zusatzfach Sexualmedizin“ in Oxford, Mailand und Amsterdam.
ao. Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder: Nach Untersuchungen leiden 42 % aller Frauen im Laufe ihres Lebens an einer Sexualfunktionsstörung, bei mindestens der Hälfte – ca. 22 % – gehen sie mit einem großen Leidensdruck einher, d. h. es besteht Bedarf an medizinischer oder psychotherapeutischer Hilfe. Bei Männern ist vor allem die Erektionsfähigkeit betroffen, die ab dem 35.–40, Lebensjahr sinkt – mit einer Prävalenz von bis zu 30 % bei über > 65-Jährigen, bei sonst Gesunden.
80 % aller Sexualfunktionsstörungen können vom Hintergrund her dem internistischen Bereich zugeordnet werden: Bis zu 80 % aller Diabetiker, 63 % der Patienten mit Fettleibigkeit, 41 % der Hypertoniker, 51% der Patienten mit Fettstoffwechselstörung, 71 % der Krebspatienten und bis zu 90 % der Rheuma-Patientinnen – hier gibt es eine besonders starke Verknüpfung – haben auch Sexualfunktionsstörungen.
In der Gesamtsicht ist die größte epidemiologische Herausforderung der Stoffwechsel. 2030 werden wir geschätzt 800.000 Diabetiker in Österreich haben, von denen 80 % an Sexualfunktionsstörungen leiden werden. Auch von Sexualfunktionsstörungen bei Übergewicht ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung betroffen – im viszeralen Fett befinden sich die Substanzen, die die Sexualität stören, dort wird Testosteron in Östrogen umgewandelt, allein dadurch sinkt der Testosteronspiegel. „Fett und fit“ hat ein relativ besseres Outcome – bei adipösen Männern mit Erektionsstörungen verschwinden diese bei 30 % wieder durch 2-mal Fahrradtraining pro Woche über ein paar Monate. Solche Details sind wenigen bekannt. Generell sollten die gesundheitlichen Implikationen von Ernährung und Bewegung ein Teil des Bildungsauftrags sein, schon volkswirtschaftlich motiviert.
Sexualität kann zum einen nicht nur durch die Grunderkrankung selbst, sondern auch durch therapeutische Maßnahmen beeinträchtigt werden. Besonders an onkologische Erkrankungen lässt sich gut demonstrieren, dass eine fehlende Berücksichtigung in Therapieentscheidungen weitreichende und langfristige Folgen in Form von späteren Sexualfunktionsstörungen nach sich ziehen kann, die bei rechtzeitiger Berücksichtigung verhinderbar gewesen wären. Das gewinnt verstärkte Bedeutung durch die verbesserte Prognose mit einem deutlich gestiegenem Langzeitüberleben bei verschiedenen Krebsentitäten. In einer „Survivorship-Medizin“ spielt Lebensqualität und damit natürlich auch Sexualität als Kriterium einer patientenorientierten Gesamtbewertung eine zentrale Rolle.
Zum Zweiten ist darüber hinaus zu betonen, dass gerade bei Erkrankungen mit infauster Prognose das Ansprechen von Sexualität in der Patientenaufklärung einen nicht hoch genug einzuschätzenden positiven Effekt auf die Therapieadhärenz hat: Allein das Ansprechen von Sexualität bewirkt ein zukunftsorientiertes Umdenken, macht Hoffnung und antagonisiert damit eine bedrohliche Prognose.
Bereits im Rahmen des Medizinstudiums müssen Basiskenntnisse der Sexualmedizin vermittelt und vermehrt im Curriculum der MedUni verankert werden. Jeder Arzt muss über die grundlegenden diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Sexualmedizin Bescheid wissen. Daher ist es wichtig, einen sexualmedizinischen Lehrstuhl zu implementieren. Selbstverständlich ist auch die Sexualität eine normale und wichtige Körperfunktion und sollte deshalb wie andere vegetativen Basisfunktionen wie Stuhlgang, Harnausscheidung, Schlaf und Stressfaktoren auch standardmäßig in der Basisanamnese beim Patientenerstgespräch erhoben werden. Auffällige Befunde könnten zur Früherkennung anderer Erkrankungen hilfreich sein: eine Erektionsstörung bei Diabetikern als Surrogatparameter für drohende kardiale Ereignisse, eine Libidostörung bei einem jungen Mann als Nebensymptom eines Hirntumors. Im HAQ-Score (Health Assessment Questionnaire) zu rheumatologischen Erkrankungen war Sexualität als Klassifikationsfaktor früher weit oben gereiht, dass sie wieder rausgefallen ist, dürfte nach meiner Einschätzung eher nichtmedizinischen Gründen wie konservativen Tendenzen in Richtung einer Tabuisierung im angloamerikanischen Raum geschuldet sein.
Sexualität ist auch hierzulande nicht nur in der Allgemeinbevölkerung, sondern auch bei Ärzten ein Tabuthema, deshalb ist es wichtig, wenn das anamnestische Ansprechen von Sexualität schon in der Ausbildung geübt wird. Natürlich gibt es „Kollateralschäden“ der Tabuisierung – wenn etwas nicht zur Sprache kommt, kann es auch nicht behandelt werde. Es ist auch volkswirtschaftlich interessant, was man durch Ansprechen der Sexualität verhindern könnte. Um ein Beispiel zu nennen: Die Aussicht auf eine verbesserte Sexualfunktion bei Patienten mit Stoffwechselerkrankungen kann entscheidend dazu beitragen, die Therapieadhärenz bei Lifestylemodifikationen zu erhöhen, die ja bekanntlich eine der effektivsten Interventionen sind, aber im großen Stil an der Patientencompliance scheitern.
Sexualität funktioniert bei der Frau schon auf physiologischer Ebene grundlegend anders als beim Mann. Bei Männern korreliert die genitale sehr stark mit der „zerebralen“ Erregung – die Wahrnehmung der eigenen Erektion wirkt beim Mann auch im Sinne einer positiven Feedbackschleife selbstverstärkend. Bei der Frau ist das Körperliche und Psychische vergleichsweise entkoppelt. Feuchtigkeit in der Vagina etwa ist keinesfalls so eindeutig mit sexuellem Verlangen verbunden wie die Erektion beim Mann, u. a. weil sie auch völlig unabhängig davon stattfinden kann, etwa während der Regel oder auch bei Infektionen.
Vereinfacht ist beim Mann gelungener Sex eher auf die körperlich-genitale Funktion fokussiert, bei einer Frau müssen zusätzlich und noch viel stärker soziale und psychologische Bedingungen erfüllt sein, um Sexualität als gut wahrzunehmen. Und im Gegenzug haben weibliche Sexualfunktionsstörungen in dieser ganzheitlich sozialen Dimension immer auch den Aspekt einer dysfunktionalen partnerschaftlichen Kommunikation – die auch sexualtherapeutisch zu berücksichtigen ist: In einer eigenen, im „European Journal of Contraception and Reproductive Health Care“ publizierten Studie1 konnten wir zeigen, dass bei Frauen mit Sexual Disorder alleine das Führen eines Tagebuchs mit selbstreflektierendem Dokumentieren des eigenen Sexuallebens und -empfindens nach 4 Wochen einen positiven Effekt sowohl auf die Sexualität als auch die Beziehungsqualität hatte.
Die ÖGFSSG veranstaltet den größten sexualmedizinischen Kongress im deutschsprachigen Raum, und auch andere Fachgesellschaften bieten mittlerweile vermehrt sexualmedizinische Themen in ihren Kongressen an. Wir stehen natürlich erst am Anfang des Weges, sehen aber schon Effekte in einer stärkeren Nachfrage, etwa in der Psychologie-Ausbildung. Wir versuchen auch, mehr Inhalte in das Medizincurriculum hineinzubekommen.
In einer konkreten Zielsetzung werden wir uns auch in der Zukunft weiter beim Hauptverband der Sozialversicherungen dafür einsetzen, sexualmedizinische Interventionen wie etwa ein kurzes sexualmedizinisches Gespräch beim Allgemeinmediziner in den Leistungskatalog zu integrieren.
Das allerwichtigste Ziel wäre jedoch, einen Lehrstuhl für Sexualmedizin an einer österreichischen medizinischen Universität bzw. an der MedUni Wien zu initiieren, wie es ihn international in einigen renommierten Universitäten bereits gibt: an der Karolinska-Universität in Schweden etwa oder an der Charité in Berlin. Für eine effiziente Einbindung von Wissenschaft und Forschung zur Sexualmedizin im Rahmen eines umfassenden Versorgungsauftrags braucht es wie in allen anderen Disziplinen auch eine explizit gewidmete und institutionelle Struktur auf universitärer Ebene.