Deszensus der weiblichen Genitalorgane

Deszensus bedeutet ein Tiefertreten der weiblichen Genitalorgane, verbunden mit typischen Beschwerden und einem Fremdkörpergefühl. Während früher fast ausschließlich das anatomische Ausmaß eines Deszensus im Vordergrund stand, fokussiert man heute auf die Beschwerden der Patientin und auf die Einschränkungen ihrer Lebensqualität.
Die Therapiekonzepte richten sich daher nicht automatisch auf eine Korrektur des anatomischen Defekts, sondern auf die speziellen Bedürfnisse der einzelnen Patientin.

Krankheitsbilder

Die Referenzebene für den Genitaldeszensus ist der Hymenalsaum. Je nach den betroffenen Organen bzw. Scheidenabschnitten unterscheidet man (Abb. 1a, b, c, d)

Zystozele: Tiefertreten der vorderen Schei­de mit dem dahinterliegenden ­Blasenboden
Rektozele: Tiefertreten der hinteren Scheide mit dem dahinterliegendem Rektum
Descensus uteri: Tiefertreten des Uterus, repräsentiert durch die Portio uteri
Deszensus des Scheidenblindsacks: Tiefertreten des Scheidenapex nach einer Hysterekomie, gegebenenfalls in Verbindung mit einer Zystozele oder Rektozele

 

 

Unter Enterozele versteht man ein Tiefertreten der hinteren inneren Scheidenwand, hinter welcher nicht mehr das Rektum liegt, sondern die Excavatio rectouterina (unterster Anteil des Douglas’schen Raums).
Der häufigste Deszensus ist die Zystozele, gefolgt vom Descensus uteri und der Rektozele, wobei natürlich Kombinationen der verschiedenen Deszensusformen vorkommen.

Wichtigste Symptome

Lange Zeit wurde der Deszensus vor allem aus anatomischer Sicht beschrieben und klassifiziert. Heute wird der Focus ganz auf die Symptome und Beschwerden der Frau und der mit dem Deszensus verbundenen Einschränkung der Lebensqualität gelegt. Schon mäßige Deszensusformen mit einem Tiefertreten von Scheide und Uterus bis zum Hymenalsaum können bereits unangenehme Sensationen hervorrufen. Frauen beschreiben dann ein typisches „Senkungsgefühl“. Ab dem Zeitpunkt, wo ein Deszensus die Hymenalebene überschreitet und die Frau eine Vorwölbung zwischen den Schamlippen wahrnimmt, ist ein Deszensus auf jeden Fall behandlungsbedürftig (Abb. 2).
Typisch für Deszensusbeschwerden ist, dass sie nicht ständig und während des gesamten Tages mit gleicher Intensität wahrgenommen werden. Typischerweise werden Deszensusbeschwerden am Abend stärker wahrgenommen als morgens. Nachts im Liegen rutscht ein Deszensus meist wieder zurück oder kann mit dem Finger zurückgeschoben werden.

 

 

Miktion und Defäkation sind durch einen leichten oder mäßigen Deszensus meist nicht beeinträchtigt. Erst bei starkem Deszensus kommt es zu typischen Beschwerden: Frauen haben oft das Gefühl, dass sie die Harnblase nicht vollständig entleeren können und sogar mit dem Finger die Scheide zurückschieben müssen, um eine Blasen- oder Darmentleerung in Gang zu setzen. Letzteres ist dadurch erklärbar, dass der Stuhl sich in einer Rektozele sammelt und nicht den direkten Weg zum Anus findet. Eine Harninkontinenz ist meistens nicht mit einem Deszensus vergesellschaftet. Sexualverkehr ist trotz eines Deszensus fast immer gut möglich.

Diagnose

Bei der Anamnese werden zwei Fragen gestellt:

  1. Haben Sie ein Senkungsgefühl?
  2. Bemerken Sie eine Vorwölbung oder einen Fremdkörper zwischen den Schamlippen?

Diese Fragen werden von jeder betroffenen Frau sofort verstanden. Die weitere Anamnese konzentriert sich darauf, die Einschränkung der Lebensqualität und den individuellen Leidensdruck genauer zu erfassen. Die Anamnese wird durch Fragen nach Harn- und Stuhlproblemen und nach Sexualverkehr ergänzt.
Die wichtigste Untersuchung ist die gynäkologische Spiegeluntersuchung. Mit zwei Blättern kann der Prolaps jeweils vorne und hinten zurückgeschoben werden, sodass die Diagnose ohne Schwierigkeiten gestellt werden kann. Einhandspekula (so genannte „Entenschnabelspekula“) sind für die Deszensusdiagnostik nicht geeignet. Außerdem ist zu beachten, dass ein Deszensus bei der Untersuchung trotz Aufforderung zum Husten oder Pressen manchmal nicht verlässlich reproduziert werden kann.
Bildgebende Verfahren (Ultraschall, Röntgen, MRI) spielen grundsätzlich eine untergeordnete Rolle, da die Deszensusdiagnostik vor allem eine klinische Diagnose ist.

Für die Beschreibung und Klassifizierung eines Deszensus wird heute allgemein das POP-Q-System verwendet. Bei diesem System wird das Tiefertreten der Scheidenanteile und der Portio bzw. des Scheidenapex an verschiedenen Punkten in Zentimetern relativ zur Ebene des Hymenalsaums angegeben, wobei Punkte innerhalb des Hymenalsaums mit einem Minus und Punkte außerhalb des Hymenalsaums mit einem Plus versehen werden.

Vereinfacht kann der Deszensus in vier Graden angegeben werden:

Grad I: bis 1 cm oberhalb des Hymenalsaums (d. h. noch innerhalb der Scheide)
Grad II: minus 1 cm bis plus 1 cm um den Hymenalsaum (d. h. bei der Spiegeluntersuchung bereits deutlich sichtbar)
Grad III: weiter als 1 cm außerhalb des Hymenalsaums
Grad IV: vollständiger Vorfall

Diese Gradbezeichnung wird getrennt für Zystozele, Rektozele, Descensus uteri und Deszensus des Scheidenblindsacks angegeben.

Therapie

Jeder Deszensus, der eine Frau stört und ihre Lebensqualität beeinträchtigt, soll behandelt werden. Zwei Aspekte sind dabei zu beachten:

  1. Ein Deszensus ist grundsätzlich keine lebensbedrohende Erkrankung. Die betroffenen Patientin muss dementsprechend informiert und beruhigt werden.
  2. Ein Deszensus soll unabhängig vom Lebensalter behandelt werden.

Konservative Therapie des Deszensus: Für die konservative Therapie eines Deszensus kommen Pessare zum Einsatz. Darunter versteht man Fremdkörper, die in die Scheide eingeführt werden und durch ihre Lage das Tiefertreten von Scheide und Uterus verhindern. Es gibt eine Unzahl an verschieden geformten Pessaren, am häufigsten wird jedoch der Ringpessar einer Größe von 60 bis 80 mm Durchmesser verwendet (Abb. 3). Der Ringpessar aus Gummi oder Silikon wird mit Creme gleitfähig gemacht und durch den Introitus vaginae leicht schräg eingeführt. Wenn der Ringpessar in der Scheide ist, dreht er sich von selbst in die Horizontalebene und kommt auf den beiden Schenkeln des Musculus levator ani zu liegen.
Der Ringpessar darf nicht zu klein gewählt werden, da er sonst aus der Scheide herausfallen kann. Er darf auch nicht zu groß sein, da es in diesem Fall zu Druckulzera in der Scheide kommen kann. Ein Ringpessar wird von der Patientin nicht gespürt, behindert nicht bei der Miktion und Defäkation, und Sexualverkehr ist möglich. Der Pessar muss regelmäßig gewechselt und gepflegt werden. Dies kann durch die Patientin selbst erfolgen, indem sie den Pessar täglich oder wöchentlich herausnimmt, wäscht und wieder einsetzt, oder durch einen Arzt oder eine Pflegeperson in 2- bis 3-monatigen Abständen.
Der Vorteil einer konservativen Therapie besteht darin, dass eine Operation vermieden wird und dass bei richtiger Pflege keine Nebenwirkungen oder Komplikationen zu erwarten sind. Eine Pessartherapie wird manchmal probeweise vor einer angedachten Operation gemacht und kann jederzeit beendet werden.
Der Nachteil einer Pessartherapie ist das Fehlen einer dauerhaften Korrektur eines Deszensus. Manche Patientin kommen mit den erforderlichen Manipulationen schlecht zurecht, und anatomisch gesehen ist für eine erfolgreiche Pessartherapie ein gut ausgeprägter Levatormuskel erforderlich, da der Pessar sonst kein Widerlager findet.

 

 

Operative Therapie des Deszensus: Die moderne Deszensuschirurgie unterscheidet sich ganz wesentlich von früher:

  1. Es gibt heute ein wesentlich besseres Verständnis der Topografie der Organe im kleinen Becken, der Aufhängeapparate und der Faszien und Räume zwischen den Organen.
  2. Der Beckenbodenchirurgie steht heute eine Vielzahl von Operationen zur Verfügung, die individuell eingesetzt werden können. Eine „One size fits all“-Mentalität ist nicht mehr zeitgemäß.
  3. Seit etwa 10 Jahren kommen in der rekonstruktiven Beckenbodenchirurgie Netze (engl. „meshes“) zum Einsatz – entweder zur Unterstützung der Faszien oder als Ersatz für körpereigenes Bindegewebe.
  4. Heute wird der Focus auf die Beschwerden und die Lebensqualität der betroffenen Frau gelegt. Jede Nachuntersuchung muss dehalb patientenbezogene Zielpunkte enthalten.

In der Deszensuschirurgie kann man zwei Aspekte unterscheiden:

  1. Zugangsweg: Der klassische Zugangsweg in der Deszensuschirurgie ist der vaginale Zugang. Als Alternative haben sich der abdominale oder laparoskopische Zugang etabliert.
  2. Körpereigenes Gewebe oder Fremdmaterial: Eine weitere Unterscheidung in der Deszensuschirurgie besteht darin, ob nur körpereigenes Gewebe zur Rekonstruktion verwendet wird („natural tissue repair“) oder ob Fremdmaterial wie Prolene®-Netze verwendet werden („mesh augmentation“). Es gibt Operationen, bei denen immer Netze verwendet werden müssen, wie beispielsweise bei der abdominalen Sakropexie. Andererseits wird das Augenmerk wieder vermehrt auf bewährte und komplikationsarme Operationen gelegt, bei denen die Rekonstruktion ausschließlich unter Zuhilfenahme von körpereigenen Faszien und Bändern erfolgt.

Vaginaler Zugangsweg

Körpereigenes Gewebe („natural tissue repair“):

Vordere Plastik: Die Operation besteht darin, dass die vordere Scheidenwand in der Medianen gespalten und türflügelartig nach seitlich von der darunterliegenden Faszie – dem Septum vesicovaginale zwischen Harnblase und Scheide – abpräpariert wird. Dieses Septum wird nun mit Einzelknopfnähten gerafft, wodurch der Blasenboden und die Harnröhre unterpolstert und angehoben werden (Abb. 4).
Hintere Plastik: Es wird wieder eine Kolpotomie – Eröffnung der Scheide entweder in der Medianen oder dreiecksförmig – gemacht und die Faszie zwischen Rektum und Scheide, das sog Septum rectovaginale, dargestellt. Diese bindegewebige Schicht wird wieder mit Einzelknopf- oder Tabakbeutelnähten gerafft, wodurch die Rektozele eingestülpt wird. Auf keinen Fall dürfen diese Raffnähte zu weit nach lateral geführt werden, da es sonst zu sehr unangenehmen Scheidenstenosen kommen kann (Abb. 5).
Vaginale sakrospinale Fixation (Amreich-Richter): Die Scheide wird am Apex oder in der Medianen gespalten, und der Operateur präpariert stumpf mit dem Finger entlang der rechten Beckenwand in die Tiefe, bis er die Spina ischiadica und das starke Ligamentum sacrospinale (zwischen Os sacrum und Spina ischiadica) identifiziert hat. Durch dieses Ligament werden 2 bis 4 Nähte gelegt und durch die Scheide nahe dem Apex geführt. Durch Knüpfen dieser Nähte wird der Scheidenapex an das Ligamentum sacrospinale herangeführt und dort fixiert (Abb. 6).

 

 

 

 

Die Operation wird einseitig (rechts) durchgeführt, die leichte Abweichung der Scheidenachse ist bei Kohabitationen praktisch ohne Bedeutung. Die Scheide wird durch die Operation nicht verengt.Eine Alternative zur vaginalen sakrospinalen Fixation ist die vaginale uterosakrale Suspension, bei welcher am Scheidenapex in die Peritonealhöhle – d. h. in den Douglas’schen Raum – eingegangen wird. Dort werden beidseits die Stümpfe bzw. die Reste der Ligamenta sacrouterina aufgesucht, und die Scheide wird mit Einzelknopfnähten an diesen Stümpfen fixiert. Als Vorteil wird angeführt, dass die Scheidenachse in der Medianen bleibt, ein Nachteil ist die mögliche Gefährdung des Ureters.

Uterusexstirpation: Die Technik der vaginalen Uterusexstirpation bei Descensus uteri ist die gleiche wie bei Entfernung der Gebärmutter aus anderen Indikationen. Die Ovarien können belassen oder auch entfernt werden. Wichtig ist bei der vaginalen Uterusexstirpation eine gute Fixierung der Scheide an den Stümpfen des Aufhängeapparats des Uterus (Ligamenta sacrouterina), um einem späteren Tiefertreten des Scheidenapex vorzubeugen.Bei einem Descensus uteri muss entschieden werden, ob der Uterus entfernt werden soll oder ob ein Erhalt der Gebärmutter möglich ist. Es ist keine Frage, dass bei jungen Frauen und Frauen mit Kinderwunsch die Gebärmutter nicht entfernt werden soll. Bei abgeschlossener Familienplanung und bei älteren Frauen ist es aber sehr oft vorteilhaft, das prolabierte Organ zu entfernen.
Kolpokleisis (Scheidenverschluss): Die Kolpokleisis kann in Lokalanästhesie durchgeführt werden und ist für alte Patientinnen gedacht, denen man keinen größeren Eingriff zumuten kann. Aus dem Scheidenepithel werden vorne und hinten je ein Rechteck ausgeschnitten, und diese beiden Rechtecke werden invertierend miteinander vernäht (Abb. 7a, b). Das Endergebnis ist eine in der Mitte völlig verschlossene Scheide ohne Zugang zur Portio.

 

 

Kunststoffnetz („mesh augmentation“): Bei allen vaginalen Operationen können Kunststoffnetze entweder zur Unterstützung der Faszienraffung oder als Ersatz der körpereigenen Faszie verwendet werden. Die Industrie bietet zahlreiche Kits an, welche das Netz und entsprechende Applikationshilfen und Fixierungen beinhalten. Das Prinzip ist bei allen Kits im Wesentlichen gleich: die Kits enthalten ein vorgeschnittenes Prolene-Netz meistens mit seitlichen Armen, mit welchen das Netz an der Beckenwand oder in der Tiefe am Lig. sacrospinale befestigt wird (Abb. 8). Bekannt sind die Produkte der Firmen Johnson & Johnson (Prolift®), American Medical Systems (Elevate®), Bard (Avaulta®) und Serag-Wiessner (Seratom®).
Die zunächst hohen Erwartungen an die Kunststoffnetze in der Prolapschirurgie mussten aufgrund von Komplikationen in den letzten Jahren zurückgenommen werden. Deshalb kommen Netze heute selten bei Erstoperationen, sondern vor allem bei Rezidiveingriffen zum Einsatz.

 

 

Laparotomie – Laparoskopie – Roboter

Die abdominale oder laparoskopische Operation eines Scheiden- oder Gebärmutterdeszensus ist die Vagino-(oder Kolpo-)Sakropexie. Ein rechteckiges Prolene-Netz wird spannungsfrei zwischen Scheide und Kreuzbeinhöhle gelegt und an der Scheide bzw. Zervixhinterwand und am Periost der Kreuzbeinvorderwand fixiert wird (Abb. 9). Oft wird das Prolene-Netz vorne gespalten und sowohl vor die Scheidenvorderwand als auch hinter die Scheide gelegt, so dass eine gleichzeitige Korrektur einer bestehenden Zystozele und Rektozele erreicht wird. Die Scheide bleibt in ihrer Länge, Weite und Mobilität für Kohabitationen unverändert. Nach einer Hystero-Sakropexie sind Schwangerschaften gut möglich.
Wenn ein Laparoskopie-Roboter zur Verfügung steht, ist die Sakropexie eine typische Operation, bei welcher die Vorteile des Roboters gut genutzt werden können.

 

 

Die hier beschriebenen Operationen werden in Abhängigkeit der lokalen Situation kombiniert. Sehr oft ist beispielsweise eine Zystozele mit einem Descensus uteri kombiniert. Auch bei einer Operation wegen Scheidenblindsackvorfall ist oft gleichzeitig eine vordere oder hintere Plastik erforderlich.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Deszensusoperationen für die Patientinnen nicht besonders belastend sind, insbesondere wenn keine Hysterektomie durchgeführt wird. Die Erfolgsraten sind je nach Befund und Ausgangssituation sehr gut, und die Reoperationsraten liegen bei unter 10 %.
Deszensusoperationen können in jedem Lebensalter gemacht werden, wenn die Indikation gegeben ist. Die Patientin erfährt eine deutliche Besserung ihrer Lebensqualität.