Auf dem vergangenen Wiener “Menopause – Andropause – Anti-Aging”-Kongress 2011 präsentierte Univ.-Prof. Dr. Ludwig Wildt, Direktor der Univ.-Klinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Department Frauenheilkunde, Medizinische Universität Innsbruck, in einem Vortrag neue Erkenntnisse und aktuelle Diskussionspunkte zu Progesteron. Mit Blick auf die Studienergebnisse aus dem neurologischen und internistischen Bereich mahnt Wildt, sich dieses Grundinventar der Frauenheilkunde nicht streitig machen zu lassen, und fordert eine verstärkte Erforschung der unterschiedlichen Partialwirkungen der synthetischen Gestagene, aber auch des natürlichen Progesterons.
GYN-AKTIV: Progesteron wird in erster Linie mit der Regulation der weiblichen reproduktiven Funktionen assoziiert. Für bestimmte physiologische Effekte von Progesteron – wie Verminderung der Schmerzempfindlichkeit, Einfluss auf die Atmung etc. – ist der Zusammenhang mit der Reproduktion nicht auf den ersten Blick erkennbar.
Univ.-Prof. Dr. Ludwig Wildt: Im evolutionären Kontext steht natürlich vieles im Bezug zur Fortpflanzung. Progesteron hat nicht nur wesentliche Effekte bei der Zyklusregulation, indem es dazu beiträgt, dass der Eisprung zum optimalen Zeitpunkt stattfindet – dann, wenn der Follikel ausgereift ist -, dass die Gebärmutterschleimhaut für die Einnistung der Blastozyste vorbereitet wird, dass die Gebärmutter ruhiggestellt wird, um eine Frühgeburt zu verhindern. Progesteron ist auch von großer Bedeutung für die Immuntoleranz in der Schwangerschaft Auch die “extragenitalen” Effekte hängen mit der Kernfunktion von Progesteron, dem Schutz und Erhalt der Schwangerschaft, zusammen. Dies betrifft z.B. die Niere und die Regulation des Wasser- u. Elektrolythaushalts während der Schwangerschaft. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die durch Progesteron induzierte Hyperventilation, die bereits in der 2. Zyklushälfte einsetzt und sich in die Schwangerschaft hinein fortsetzt. Dies könnte die Diffusion von CO2 aus dem Embryo bzw. Feten in den mütterlichen Organismus erleichtern. Progesteron kann darüber hinaus antiemetisch und neuroprotektiv wirken und die Schmerzempfindlichkeit reduzieren, was ebenfalls im weiteren Sinne in Zusammenhang mit der Fortpflanzung gebracht werden kann.
Es wird auch eine lokale Progesteronsynthese im Zentralnervensystem abseits der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse diskutiert, naheliegenderweise auch mit anderen Regelkreisen. Welche Aufgabe hat dieses “ektop” produzierte Progesteron?
Von der lokalen Progesteron-Synthese im ZNS weiß man erst seit kurzem. Ein wichtiger Aspekt scheint hierbei der Schutz von Nervenzellen vor Schädigung zu sein. Dieser vermutete Effekt von Progesteron wird zurzeit in größeren klinischen Studien bei Hirntrauma und Schlaganfall untersucht, nachdem einige Studien eine protektive Wirkung von Progesteron gezeigt haben.
In der Gynäkologie wird Progesteron als weibliches Sexualsteroid im Sinne eines Hormonersatzes auch therapeutisch genützt. Sind für Frauen auch andere Indikationen denkbar, um speziell von den “extrarreproduktiven” Wirkungen zu profitieren? Wie steht es um die Männer als Zielgruppe?
Zunächst zu den Frauen: in der HRT findet Progesteron im Sinne der Endometriumprotektion Anwendung. Es wirkt jedoch infolge der Verstoffwechslung zu Neurosteroiden auch psychotrop, an den GABA-Rezeptoren etwa, die u.a. anxyolytische Signale vermitteln.
Aber auch für den männlichen Organismus gibt es Ansätze, um Partialwirkungen therapeutisch zu nutzen: etwa zur Unterdrückung von Immun- bzw. Entzündungsreaktionen. Bei bestimmten Autoimmunerkrankunen ist das versucht worden. Es gibt da sehr viele interessante Aspekte, wobei die Datenlage noch alles andere als klar ist.
Die in der Kontrazeption verwendeten synthetischen Gestagene unterscheiden sich von Progesteron selbst und untereinander durch sehr unterschiedliche Affinitäten zu den verschiedenen Steroidhormonrezeptoren (Östrogen-, Androgen-, Glukokortikoid-, Mineralokortikoid-Rezeptoren etc.) – und damit in ihren Partialwirkungen.
Die synthetischen Gestagene sind ja auch mit einer ganz anderen Intention entwickelt worden: zur oralen Verabreichung mit fehlendem Abbau im Verdauungstrakt und Leber. Die nicht-kontrazeptiven Wirkungen der synthetischen Gestagene können auch therapeutisch genutzt werden und werden so zu entscheidenden Aspekten in der Verhütungsberatung. Dies betrifft vor allem die aldosteronantagonistische und antiandrogenen Partialwirkungen dieser synthetischen Gestagene.
Gibt es ein ideales Gestagen im Rahmen der Kontrazeption?
Das gibt es wahrscheinlich nicht, und das ist ja auch gut so. Wenn man viele verschiedene Gestagene zur Verfügung hat, ist damit ein gezielte Anwendung bei der individuellen Patientin möglich.
Andererseits stehen Gestagene auch aufgrund von unerwünschten Nebenwirkungen in Diskussion. Welchen Anteil haben Gestagene am erhöhten venösen Thromboserisiko durch orale kombinierte Kontrazeptiva?
Diese Problematik wird im Augenblick intensiv diskutiert. Es sind einige Studien erschienen, die zeigen, dass das venöse Thromboserisiko bei Pillen mit Gestagenen der 3. und 4. Generation, wie Desogestrel, Gestoden oder Drospirenon im Vergleich zu älteren Gestagenen erhöht ist. Die Risikoerhöhung ist sicherlich nicht sehr stark ausgeprägt, man muss jedoch davon ausgehen, dass sie real ist. Es gilt jedoch ein erhöhtes Thromboserisiko mit den nicht-kontrazeptiven “Benefits” wie z. B. Wirkungen auf das Gewicht oder auf Androgenisierungserscheinungen in Relation zu setzen. Das Risiko ist ja auch bei den älteren Gestagenen nicht null. Zu erwähnen ist auch, dass die meisten Thrombosen unter der Pille zu Beginn der Einnahme – die Angaben schwanken von einigen Monaten bis zu 1 bis 2 Jahren – auftreten.
Wie gehen Sie selbst mit dem venösen Thromboserisiko in der individuellen Verhütungsberatung um?
Ich neige zu einer vorsichtigen Haltung. Zunächst: Wer schon eine Drospirenon-, Gestoden- oder Desogestrel-haltige Pille einnimmt und diese gut verträgt, soll diese weiternehmen. Wenn eine Patientin jedoch neu mit einer Pille beginnen will und die ausschließliche Indikation die Kontrazeption ist – also keine Akne, kein Brustspannen vor der Periode etc. vorliegt -, würde ich, so wie die Datenlage augenblicklich aussieht, eine Levonorgestrel-haltige Pille wählen. Wenn unter der Einnahme einer solchen Pille jedoch Nebenwirkungen wie Androgenisierungserscheinungen, Wassereinlagerungen oder eine andere Art von Unverträglichkeit auftreten, sehe ich kein Problem, auf ein neueres Gestagen umzusteigen.
Vielen Dank für das Gespräch.