Geleit 4/2012: Medizinisch unterstützte Fortpflanzung – Reformbedarf aus verfassungsrechtlicher Sicht*

1. Während sich der Gesetzgeber im Medizinrecht üblicherweise auf die Festlegung allgemeiner „Spielregeln“ beschränkt und die Auswahl medizinischer Methoden dem „Stand der Wissenschaft“ und dem Einvernehmen zwischen Arzt und Patient überlässt, dringt die Regelungsintensität auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin weit in die Detailfragen der Methodenwahl ein. Das Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) folgt dabei – auch im europäischen Vergleich – einem sehr restriktiven Konzept: Die Freiheit der Personen, sich außerhalb der „normalen“ Wege fortzupflanzen und dazu auch die Hilfe der Reproduktionsmedizin in Anspruch zu nehmen, wird auf wenige Methoden (künstliche Insemination, In-vitro-Fertilisation – IVF) beschränkt, deren Zulässigkeit wieder an eine Vielzahl einengender Bedingungen gebunden ist (z. B. Subsidiarität, Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Paare, keine Keimzellenspende Dritter außer bei der Samenspende zum Zweck der Insemination; keine IVF mit gespendetem Samen; keine postmortale künstliche Befruchtung; begrenzte Aufbewahrungsdauer von extrakorporalen Embryonen; weitgehendes Verbot der Präimplantationsdiagnose an In-vitro-Embryonen u. a. m.).

2. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das FMedG sind so alt wie das Gesetz selbst. Wiederholte Versuche, einzelne Bestimmungen des FMedG (Verbot der Eizellspende und der heterologen IVF) vor dem VfGH und dem EGMR (S. H./Österreich**) zu Fall zu bringen, blieben bislang ohne Erfolg. Die Begründungen der beiden Höchstgerichte waren allerdings weniger durch die Überzeugungskraft der Argumente zugunsten der geltenden Verbote geprägt als durch einen sehr großen Respekt gegenüber dem „Beurteilungsspielraum“ des demokratischen Gesetzgebers.

3. Den verfassungsrechtlichen Beurteilungsrahmen für das Fortpflanzungsmedizinrecht bilden insbesondere das Recht auf Privat- und Familienleben (Art 8 EMRK) sowie der Gleichheitssatz (Art 7 B-VG, Art 14 EMRK). Darüber hinaus können – je nach Problemstellung – eine Reihe anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte ins Spiel kommen, etwa das Recht, eine Familie zu gründen (Art 12 EMRK), die Erwerbsausübungsfreiheit (Art 6 StGG) oder die Wissenschaftsfreiheit (Art 17 StGG). Anders als in Deutschland spielt der Aspekt des Embryonenschutzes auf verfassungsrechtlicher Ebene hingegen keine Rolle: Befruchtete Eizellen stehen nicht unter dem Schutz des Rechts auf Leben (Art 2 EMRK). Auch eine spezifische (über den Gewährleistungsbereich der anderen Grundrechte hinausgehende) „Menschenwürdeklausel“, aus der sich mancherlei ableiten ließe, gibt es in Österreich nicht.

4. Das Recht, genetisch eigene Kinder zu bekommen und sich zu diesem Zweck auch der Errungenschaften der Fortpflanzungsmedizin zu bedienen, fällt als Ausdruck des Privat- und Familienlebens in den Schutzbereich des Art 8 EMRK. Höchstpersönliche Entscheidungen im Bereich der Fortpflanzung sind daher auch und gerade dann, wenn diese moralisch unterschiedlich bewertet werden können, Gegenstand grundrechtlichen Schutzes, der erst nach Maßgabe des jeweiligen Gesetzesvorbehalts eingeschränkt werden darf. Dabei geht es nicht um ein „Recht auf ein Kind“, sondern ausschließlich um eine abwehrrechtliche Dimension, nämlich: ob und inwieweit der Staat die Inanspruchnahme verfügbarer medizinischer Methoden verbieten darf.

5. Dieser Abwehranspruch ist nicht absolut, sondern kann zugunsten anderer Rechtsgüter eingeschränkt werden. Solche Einschränkungen unterliegen aber spezifisch grundrechtlichen Anforderungen. Sie müssen im Schutzzielkatalog des Art 8 Abs 2 EMRK gedeckt sein, die gewählten rechtlichen Instrumente müssen zur Erreichung dieser Ziele verhältnismäßig (Eignung, Erforderlichkeit im Sinne des Fehlens weniger eingreifender Alternativen, Angemessenheit) sein und auch sonst den Anforderungen des Gleichheitssatzes entsprechen. Das impliziert, dass jene Gefahren, die durch die einschränkenden Regeln des FMedG bekämpft werden sollen, nicht nur behauptet, sondern hinreichend plausibel und durch empirische Daten konkretisiert werden. Und schließlich müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Fortpflanzungsmedizin in kohärenter Weise und unter Vermeidung von Wertungswidersprüchen ausgestaltet sein.

6. Das FMedG wird diesen Anforderungen nicht gerecht: Weder das Verbot der Eizellspende (in Relation zur erlaubten Samenspende) noch jenes der heterologen IVF mit dem Samen Dritter (in Relation zur erlaubten heterologen Insemination) hält einer grundrechtlichen Prüfung stand. Daran ändert auch das abweisende Urteil des EGMR im Fall S. H. nichts: Der EGMR hat keine Aussage über die Verfassungskonformität des FMedG getroffen, sondern eine Verletzung der EMRK im Zeitpunkt der letzten innerstaatlichen Entscheidung (1999) verneint. Dazu kommt, dass für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit noch andere Determinanten maßgeblich sind, über die der EGMR nicht zu entscheiden hatte. Außerdem könnte sich der VfGH (und erst recht der Gesetzgeber) nicht auf jene judizielle Selbstbeschränkung zurückziehen, die der EGMR primär mit der subsidiären Kontrollfunktion eines europäischen Gerichts und dem großen nationalen „Beurteilungsspielraum“ begründet hat.

7. Verfassungsrechtlich nicht minder bedenklich sind insbesondere die – zurzeit vor dem VfGH anhängige – Beschränkung medizinisch unterstützter Fortpflanzung auf verschiedengeschlechtliche Paare, das Verbot der Embryonenspende und der Gewinnung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken (selbst bei ohnehin eintretender Vernichtung des Embryos) sowie die Beschränkung auf aufrechte Partnerschaften (selbst wenn sich die Wunscheltern erst nach der Befruchtung in vitro trennen oder einer von ihnen stirbt).

8. Das (mehr oder weniger weitgehende) Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist nach ganz überwiegender Auffassung gleichheitswidrig. Das FMedG überlässt der Frau zwar die freie Entscheidung über die Implantation, versagt ihr aber den Zugang zu diagnostischen Informationen über den Gesundheitszustand des Embryos in vitro. Nach Beginn der Schwangerschaft steht ihr hingegen das gesamte Spektrum der Pränataldiagnostik bis hin zum erlaubten Schwangerschaftsabbruch aus embryopathischer Indikation offen. Die Kombination eines absoluten „Diagnoseschutzes“ des Embryos in vitro mit den wesentlich größeren Handlungsspielräumen während der Schwangerschaft beruht auf einem evidenten Wertungswiderspruch.

9. Der Vorwurf, die Zulassung der PID verstieße gegen das Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen, ist nicht begründet. Die spezifischen Gleichbehandlungsgebote des Art 7 B-VG sind auf vorgeburtliche Phasen nicht anwendbar. Im Übrigen müsste man – träfe der Diskriminierungsvorwurf zu – dann umso mehr die Pränataldiagnostik während der Schwangerschaft sowie die embryopathische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch beseitigen. 10. Die Bedingungen, unter denen ein liberaler Rechtsstaat die Handlungsfreiheiten seiner Bürger einschränken darf, ergeben sich nicht unmittelbar aus Moral und Ethik, sondern aus der Verfassung, insbesondere den Grundrechten. Ethisch und/oder religiös begründete Einwände genügen hiefür nicht (mehr). Vor dem Hintergrund der Weltanschauungsfreiheit und des „ethischen Pluralismus“ fällt den Grundrechten auch die Funktion zu, die Freiheit des Einzelnen vor moralischen Anmaßungen jener zu schützen, die ihre partikulären Wertauffassungen und absoluten ethischen „Wahrheiten“ gern zur rechtsverbindlichen Richtschnur für Andersdenkende machen möchten.

Abkürzungen:
FMedG: Fortpflanzungsmedizingesetz
VfGH: Verfassungsgerichtshof

EGMR: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK: Europäische Menschenrechtskonvention
B-VG: Bundes-Verfassungsgesetz
StGG: Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger

* Thesenpapier anlässlich der Frühjahrstagung der Österreichischen Juristenkommission 2012 zum Thema „Gesundheit und Recht – Recht auf Gesundheit“ in Schlögen. Der vollständige Vortrag erscheint im Rahmen des Tagungsbandes im Linde-Verlag.
** Der Fall S. H. u .a. gg. Österreich betrifft die Beschwerde von zwei Ehepaaren, denen es nur im Wege einer In-vitro-Fertilisation durch Verwendung gespendeter Eizellen bzw. Samen möglich ist, Kinder zu bekommen. Da das österreichische Recht diese Fortpflanzungsmethoden verbietet, andere Formen jedoch zulässt, wandten sie sich an den EGMR und rügten, in dieser Hinsicht diskriminiert zu werden. Nach Auffassung des EGMR war das Verbot der Samen- oder Eizellspende bei der In-vitro-Ferilisation im Jahr 1999 mit Art 8 EMRK vereinbar.