Geleit 3/2012: Gender-Medizin – Gesundheit, männlich und weiblich

 

 

Die Bezeichnung „Gender-Medizin“ führt ein wenig in die Irre. Zu Anfang ging es diesem neuen Forschungszweig hauptsächlich darum, die Unterschiede in der Gesundheitsversorgung und Behandlung von Männern und Frauen zu beseitigen, die aufgrund von gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Einflüssen entstehen. Denn auch erlernte und von der Gesellschaft erwartete Verhaltensweisen beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden oder gesund zu bleiben.
So hat sich gezeigt, dass Frauen zwar insgesamt gesundheitsbewusster als Männer leben, eher auf Körpersignale reagieren und sich zudem nicht nur um das gesundheitliche Wohlbefinden ihrer Partner, sondern auch um das der anderen Familienmitglieder kümmern. Allerdings werden ihre Gesundheitsprobleme weniger ernst genommen, wenn sie medizinische Hilfe suchen. Mit ein Grund, warum beispielsweise Herzprobleme bei ihnen oft als „psychosomatisch“ fehlgedeutet werden.
Die Gender-Medizin nimmt aber nicht nur Rücksicht auf die gesellschaftlichen, ökologischen und vor allem ökonomischen Arbeits- und Lebensbedingungen, die ebenfalls einen großen Einfluss auf den Gesundheitszustand haben. Sie widmet sich verstärkt auch den unterschiedlichen Symptomen und Ausprägungen einund derselben Krankheit bzw. den unterschiedlichen Krankheiten bei Mann und Frau, die durch die unterschiedliche genetische und biologische Ausstattung – Hormone, Erbanlagen, Anatomie, Stoffwechselvorgänge – begründet sind. An die 30.000 wissenschaftliche Artikel mit dem Stichwort „Gender medicine“ zählte die medizinische Datenbank PubMed im Frühjahr 2011. Vor allem in den Fachgebieten, die sich mit Hormonen (in der Medizinersprache: „Endokrinologie“) und Stoffwechsel („Metabolismus“) beschäftigen, macht die Gender-Medizin enorme Fortschritte.1 Diese Erkenntnisse sind gerade bei jenen Erkrankungen, die immer häufiger diagnostiziert werden – beispielsweise so genannte Lebensstil-Erkrankungen wie solche des Herz-Kreislauf-Systems, aber auch psychiatrische Störungen wie Depressionen –, enorm wichtig. Freilich lassen sich biologische und psychosoziale Ursachen von Gesundheitsproblemen nicht immer klar voneinander trennen, manchmal beeinflussen oder bedingen sie einander. Mit ein Grund, warum aus dem Bereich der Gender-Medizin fast täglich neue Erkenntnisse kommen.
Bekannt ist bisher unter anderem:

  • Die bis in die 1990er-Jahre aufrechte Ansicht, dass Frauen vor einer koronaren Herzgefäßerkrankung (in der Fachsprache zu „KHK“ abgekürzt) geschützt sind, ist ein Mythos.
  • Das Risiko von Frauen, an Alzheimer zu erkranken, ist höher als das der Männer.
  • Frauen neigen während ihrer Menstruation vermehrt zu Schleimhauterkrankungen im Magen-Darm-Trakt und Asthmaanfälle häufen sich kurz vor der Periode.
  • Frauen weisen 4- bis 10-fach häufiger als Männer Schilddrüsenfunktionsstörungen auf.
  • Frauen sind 2- bis 4-mal so häufig von rheumatischen und anderen Autoimmunerkrankungen betroffen.
  • Blasenkrebs ist bei Frauen seltener, dafür aber oft aggressiver.

Der Gender-Aspekt betrifft jedoch nicht nur Frauen, sondern beide Geschlechter, und so widmet sich die Gender-Medizin auch der Männergesundheit. Denn auch Männer sind einerseits von ihrer Biologie geprägt und verhalten sich andererseits entsprechend ihrer gesellschaftlichen Rolle. Seit Generationen gilt die Frau als das schwache, der Mann als das starke Geschlecht. Doch die vermeintlich kraftstrotzenden Männer sind alles andere als nachahmenswert in ihrem Gesundheitsverhalten. Im Gegenteil: Sie nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil, und ihre im Vergleich zu Frauen um rund 5 Jahre kürzere Lebenserwartung ist nur zu einem ganz geringen Teil in der biologischen und genetischen Ausstattung begründet. Männer sind öfter Opfer von Verkehrsunfällen, weil sie Schnellfahren als Beweis von Männlichkeit sehen; sie trinken mehr Alkohol und rauchen öfter und mehr als Frauen – mit den entsprechenden Folgen für ihre Gesundheit. Männer leben aber nicht nur in ihrer Freizeit, sondern auch in der Arbeitswelt gefährlicher: Rund 90 % der tödlichen Arbeitsunfälle haben Männer zum Opfer. Auch sind Männer, das zeigen viele Statistiken und Studien, an einer gesunden Lebensführung und ihrer eigenen Gesundheit weit weniger interessiert als Frauen.
Aber auch Besonderheiten, die größtenteils auf biologische Gegebenheiten zurückzuführen sind, werden nach und nach deutlich:

  • So betrifft der plötzliche Herztod unter Sportlern fast ausschließlich Männer.
  • Wesentlich mehr Männer als Frauen erkranken an Leukämie.2
  • Bei Männern entstehen Darmpolypen – mögliche Vorläufer von Darmkrebs – bedeutend früher als bei Frauen.
  • Mehr Männer als Frauen sterben an Infektionserkrankungen.

Auf solche geschlechtsspezifische Gesundheitsprobleme von Männern wurde bisher kaum eingegangen. Denn trotz ihrer Männerzentrierung ist die Medizin auf einigen Gebieten regelrecht geschlechterblind, das zeigt ein weiterer Blick in die medizinische Datenbank PubMed. Dort sind mehr als 30.000 Fachartikel mit dem Stichwort „Women’s Health“ gelistet. Mit dem Stichwort „Men’s Health“ gibt es bloß rund 3.000, also ein Zehntel davon.1 Nach wie vor existieren wenige Einrichtungen, die speziell für Männer bestimmt sind, sieht man von urologischen Abteilungen und Fachpraxen ab, wo es hauptsächlich um Potenzschwierigkeiten geht. Deshalb gibt es seit einigen Jahren auch Forschungsschwerpunkte auf dem Gebiet der Männergesundheit, und die Gender-Medizin rückt vermehrt auch den Mann in ihren Fokus.

Pillen für Männer

Wenn neue Wirkstoffe auf ihre Wirkung und Sicherheit geprüft werden, geschieht das in großangelegten klinischen Tests mit vielen hunderten Patienten. Bis vor Kurzem stand der Mann – und hier wiederum vor allem der rund 30-jährige, weiße Mann – bei solchen Arzneimittelstudien im Mittelpunkt, selbst wenn es um Mittel ging, die später auch Frauen helfen sollten. Der Grund dafür ist ebenso simpel wie unlogisch: Seitdem das Schlafmittel Contergan® Anfang der 1960er-Jahre bei Ungeborenen zu gravierenden Fehlbildungen geführt hat, befürchtet die Pharmaindustrie, dass Kinder geschädigt werden könnten, wenn eine Probandin während einer Medikamentenstudie ungewollt schwanger wird. Das bedeutet, dass bei vielen auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln gar nicht bekannt ist, ob sie für Ungeborene potenziell schädlich sind und ob sie bei Frauen überhaupt anders wirken als bei Männern.
In der ersten großen Vergleichsstudie zum Thema Arzneimittelforschung an Frauen im Jahr 2001 stellte sich heraus, dass nur in einem Viertel der 442 in den vorangegangenen Jahren veröffentlichten Studien überhaupt Frauen miteinbezogen waren. Und inwieweit Frauen anders auf das Medikament reagierten als Männer, wurde gar nur in 14 % dieses Viertels untersucht.3 Dass eine solche einseitige Forschung Folgen hat, bedarf keiner weiteren Erläuterung. So hat sich erst in der Praxis herausgestellt, dass verschiedene Antibiotika bei Frauen eher Herzrhythmusstörungen auslösen als bei Männern; oder dass Frauen schon auf eine geringere Dosis von Beruhigungsmitteln ansprechen als Männer – unabhängig von ihrem geringeren Körpergewicht.
Langsam ist hier jedoch eine Änderung im Gange. Sowohl auf EU-Ebene als auch von den Wissenschaftsministerien in Deutschland und Österreich wurden Richtlinien erarbeitet, die vorschreiben, dass der Gender-Aspekt in Forschungsvorhaben zu berücksichtigen ist: auch das ein Bereich der Gender-Medizin.
Wer geschlechtsspezifische Unterschiede zu seinem Forschungsgegenstand macht, gerät schnell in die Diskussion um politische Korrektheit. Und ebenso schnell kommt der Vorwurf, allein schon die Suche nach solchen Unterschieden beweise eine sexistische Haltung und zementiere gewisse Vorurteile ein, die die jahrhundertelange Diskriminierung der Frauen beförderte. Das Gegenteil ist der Fall. In der Gender-Medizin geht es darum, den Unterschieden auf den Grund zu gehen, um sie in der Vorsorge, dem Erkennen und Behandeln von Krankheiten zu berücksichtigen und damit Frauen wie Männern ein gesünderes Leben zu ermöglichen.

 

Der Beitrag ist dem soeben im Orac Verlag erschienenen Buch „Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts“ entnommen (ISBN 978-3-7015-0541-8).

  1. Kautzky-Willer A.: Sex- and gender-based medicine: a challenging field von research. Wien Med Wochenschr 2011; 161/5-6:105-108
  2. European Commission: The State of Men’s Health in Europe – Report, European Union 2011. Seite 56
  3. Rammasubu K. et al.: Gender biases in clinical trials: do double standards still apply? J Womens Health Gend Based Med 2001; 8:757-64. Zitiert nach: Rieder A. et al.: Gender Medizin – Geschlechtsspezifische Aspekte für die klinische Praxis. Springer, Wien. 2. Auflage 2007, Seite 5