Sicherstellung einer effizienten Arzneimittelversorgung – Gedanken zu aktuellen Entwicklungen in der medikamentösen onkologischen Therapie

Therapieindividualisierung und -stratifizierung

Der Begriff “personalisierte” bzw. “individualisierte” Medizin ist in diesem Zusammenhand allerdings umstritten, da er das Bild einer auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Arzneimitteltherapie suggeriert, die so nicht realisierbar ist, da Tumorerkrankungen zumeist unterschiedliche biologische Subtypen enthalten, die sich im klinischen Verhalten und therapeutischen Ansprechen unterscheiden. In diesem Kontext gewinnen vor allem Biomarker-basierte individuelle Therapiekonzepte zunehmend an Bedeutung. Beispiele für bereits heute klinisch relevante Subtypen bei soliden Tumoren, bei denen Biomarker-basierte individuelle Therapiekonzepte eingesetzt werden, sind:

  • Hormonrezeptor- oder HER2(auch bekannt als ERBB2)- positive Mammakarzinome
  • nicht-kleinzellige Bronchialkarzinome mit aktivierenden EGFR-Mutationen • kolorektale Karzinome mit KRAS-Mutationen
  • oder maligne Gliome mit hypermethylierter Methyl- Guanin-Methyl-Transferase (MGMT)

Bei jeder dieser Subtypen beeinflusst bereits heute die Kenntnis des molekularen Profils der individuellen Tumorerkrankung die Therapieentscheidung und erlaubt Aussagen zur Prognose. In Bezug auf die Biomarker-basierten “zielgerichteten” neuen Wirkstoffe wird inzwischen der Begriff der “stratifizierten” Medizin bevorzugt. Darunter ist zu verstehen, dass Patienten identifiziert und einer Patientengruppe zugeordnet werden, die sich von einer anderen Patientengruppe insofern unterscheidet, als sie anders auf eine bestimmte Therapie reagiert. Um diese viel versprechenden, bisher jedoch nur bei wenigen Tumorerkrankungen umgesetzten Möglichkeiten der “personalisierten” Medizin stärker in der onkologischen Therapie zu integrieren, sind Änderungen in Bezug auf die Arzneimittelentwicklungen, klinischen Prüfung und in Bezug auf den Einsatz von neuen onkologischen Wirkstoffen unter Alltagsbedingungen erforderlich. Hierzu zählen u. a.

  • die konsequente Berücksichtigung von Biomarken, analysiert mittels validierter Testsysteme im Rahmen klinischer Studien vor und nach der Zulassung
  • die Anpassung regulatorischer Entscheidungen der Zulassungsbehörden bei biomarkerbasierten klinischen Prüfungen
  • die rasche Bestätigung der prädiktiven und prognostischen Relevanz von Biomarkern im Rahmen unabhängiger, wissenschaftsinitiierter klinischer Studien nach Marktzulassung der onkologischen Wirkstoffe
  • und die konsequente Berücksichtigung der bereits heute etablierten Biomarker bei individuellen Therapieentscheidungen (z. B. kein Einsatz der gegen EGFR gerichteten monoklonalen Antikörper bei Patienten mit kolorektalen Karzinomen und Nachweis von KRAS-Mutationen)

Wie beim Einsatz der Biomarker muss auch bei der klinischen Verwendung von pharmakogenetischen Methoden streng darauf geachtet werden, dass sich ihr Einsatz am klinischen Nutzen zu orientieren hat.

“Efficacy” und “Effectiveness”

Die Onkologie ist für die pharmazeutische Industrie ein wichtiger Wachstumsmarkt mit hohen Umsatzzuwächsen, für die Zukunft sind weitere erhebliche Ausgabensteigerungen zu erwarten. Zu dieser Entwicklung tragen unterschiedliche Faktoren bei:

  • der demographische Wandel, der mit einer ansteigenden Prävalenz von Krebserkrankungen assoziiert ist
  • die Markteinführung einer Reihe von neuen und teuren onkologischen Arzneimitteln
  • die Verlängerung der Behandlungsdauer onkologischer PatientInnen
  • die Forschungsstrategie der pharmazeutischen Industrie
  • und nicht zuletzt die Preise der Biopharmazeutika, insbesondere der “small molecules” mit molekularbiologisch definierten Angriffspunkten.

Therapiekosten: Jahresbehandlungskosten (rund 30.000 bis 60.000 € und mehr) stellen eine besondere finanzielle Herausforderung dar, wobei die Sicherstellung einer finanzierbaren Versorgung in der Onkologie und der Zugang zu neuen onkologischen Arzneimitteln, die eine Verbesserung der Behandlungschancen erwarten lassen, nicht zuletzt eine Frage der sozialen Verantwortung ist.

Patientennutzen: Der Patientennutzen einer medikamentösen Therapie in der Onkologie besteht in einer Verbesserung des Gesundheitszustandes, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verlängerung der Lebensdauer und Verringerung von Therapienebenwirkungen; er lässt sich in der Verbesserung der Lebensqualität subsumieren. Im Idealfall besteht also der Nutzen einer medikamentösen Therapie in der Heilung, bei palliativem Therapieansatz in einer verlängerten Überlebenszeit bzw. der Linderung krankheitsbezogener Symptome. Allerdings, nicht alles, was aktuell auf den onkologischen Arzneimittelmarkt kommt, beinhaltet tatsächlich einen Fortschritt.
Bei den klinischen Endpunkten, die den entsprechenden Nutzen einer Medikation anzeigen sollen und in Studien Verwendung finden, unterscheidet man zwischen primären und sekundären Endpunkten bzw. zwischen so genannten harten, patientenrelevanten Endpunkten und Surrogat-Parametern, so genannten weichen Endpunkten. Als harter, aussagekräftiger Endpunkt gilt die Überlebensdauer (OS), da dieser Endpunkt den Patientennutzen eindeutig abbildet. Als Surrogatparameter werden in klinischen Studien häufig krankheitsfreies Überleben (DFS) bzw. progressionsfreies Überleben (PFS) angegeben; in bestimmten klinischen Situationen, wie z. B. im Rahmen von palliativen Therapieformen, sind Surrogatparameter nicht selten aussagekräftiger als harte Endpunkte.

Zulassung: Die europäische Arzneimittelagentur EMA (European Medicines Agency) befindet sich bei Zulassungsentscheidungen für onkologische Medikamente häufig in einem Dilemma: Einerseits ist sie bestrebt, einen raschen Marktzugang neuer Wirkstoffe in der Onkologie zu ermöglichen, andererseits hat sie anhand vorliegender Studiendaten eine gründliche Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vorzunehmen. Angesichts fehlender Therapiealternativen (z. B. bei fortgeschrittenen und/oder medikamentös vorbehandelten Tumorerkrankungen) ist die EMA deshalb häufig gezwungen, neuen onkologischen Wirkstoffen trotz bestehender Unsicherheit bzw. Erkenntnislücken hinsichtlich Wirksamkeit und Risiken im Vergleich zu etablierten Therapien eine Zulassung zu erteilen. Die von der EMA deshalb für lebensbedrohliche Erkrankungen eingeführten Zulassungsoptionen etwa als bedingte Zulassung (“conditional approval”) bzw. im Sinne eines beschleunigten Zulassungsverfahrens (“accelerated approval”) sollen die rasche Verfügbarkeit neuer Wirkstoffe in der Onkologie garantieren und Versorgungslücken (“unmet medical needs”) schließen. Diese Optionen setzen aber voraus, dass nach erfolgter Zulassung durch den pharmazeutischen Hersteller weitere Studien zur Beantwortung von Fragen zur Wirksamkeit, Sicherheit, optimaler Dosierung und Therapiesequenz durchgeführt werden, damit die EMA regelmäßig das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer bestimmten Medikation bewerten kann.
Zahlreiche Analysen haben verdeutlicht, dass die Datenlage bzw. die so genannte beste verfügbare Evidenz zum Zeitpunkt der Zulassung von neuen Wirkstoffen in der Onkologie tatsächlich häufig unbefriedigend ist. Die vor Zulassung durchgeführten klinischen Studien der Phase II und III, in denen die Wirksamkeit unter definierten Studienbedingungen geprüft wird (“efficacy”) sind für den Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit von neuen Arzneimitteln unter Alltagsbedingungen (“effectiveness”) eher wenig ausschlagkräftig. Gründe hierfür sind unter anderem Mängel im Design der klinischen Studien:

  • so entspricht z. B.die Vergleichsintervention nicht der gegenwärtigen Standardbehandlung
  • der Vergleichsarm enthält anstelle eines aktiven Wirkstoffes ein Placebo bzw. “best supportive care”
  • die Einschlusskriterien sind zu hinterfragen (z. B. ältere Patientinnen mit Komorbidität werden ausgeschlossen)
  • die Endpunkte sind nicht patientenrelevant
  • die Untersuchungszeiträume sind meistens auf wenige Wochen bis Monate begrenzt, mit unzureichender bzw. gelegentlich auch fehlender Angabe zur medianen Nachbeobachtungsdauer

Mehrere Analysen zur Qualität von randomisierten klinischen Studien (RCT) in der Onkologie haben tatsächlich gezeigt, dass die Qualität vieler Untersuchungen sowohl vor als auch nach der Zulassung dringend verbesserungs würdig ist. Nicht selten ist deshalb die Aussagekraft dieser Studien für die Bewertung des Patientennutzens, aber auch für die Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien und für eine gerechte Allokation neuer, häufig sehr kostenintensiver Wirkstoffe stark eingeschränkt.
In diesem Kontext abschließend noch ein Kommentar zur menschlichen und ökonomischen “Effectiveness” onkologischer Therapien: In den USA wurden nachgewiesen, dass sich die Verabreichung einer Chemotherapie bis zum Lebensende häufig als unnötig aggressiv erweist. Dies führte zur Empfehlung, dass nur ein kleiner Teil der Patienten in den letzten 14 Tagen ihres Lebens eine Chemotherapie in erhalten sollte. Die hohen Therapiekosten, die häufig am Lebensende auftreten und die Lebensqualität gerade in einer palliativen Situation keineswegs verbessern, erfordern Qualitätsindikatoren und Prognose-Scores zur verbleibenden Überlebenszeit der PatientInnen, um im Einzelfall eine Grundlage für die Allokation zwischen einer präventiven und palliativen Versorgung zu schaffen. Zweifellos stellen allerdings gerade diese Allokationsentscheidungen für den Arzt eine besondere Belastung dar.

Quelle: Gutachten im Auftrag des Deutschen Bundesministeriums für Gesundheit: “Sicherstellung einer effizienten Arzneimittelversorgung in der Onkologie”, Bremen, August 2010

Das komplette Gutachten ist auf der Internet-Seite des Deutschen Bundesministeriums für Gesundheit (www.bmg.bund.de) als Download zu finden: http://www.bmg.bund.de/fileadmin/redaktion/pdf_allgemein/Gutachten_Sicherstellung_einer _effizienten_Arzneimittelversorgung_in_der_Onkologie.pdf