Ullrich forschte damals auf dem Gebiet der Wachstumsfaktoren, genauer gesagt an EGF, dem Epidermal Growth Factor. Im Rahmen dieser Forschungsvorhaben entdeckte er ein neues Gen, das dem EGF-Rezeptor sehr ähnlich war; deshalb erhielt es auch den Namen “Human EGF-Receptor-related Receptor”, abgekürzt HER2.
Aufgrund der Homologie mit dem Onkogen erbB stellte sich die Frage, ob auch HER2 Bedeutung in der Onkologie habe. Ullrich ging damals eine Forschungsgemeinschaft mit Prof. Dennis Slamon, University of California, ein, da Slamon Zugang zu Tumorgewebe von KrebspatientInnen hatte. Als Ergebnis der gemeinsamen Forschungsvorhaben wurde um die Mitte der 1980er-Jahre festgestellt, dass das HER2-Gen im Brustkrebsgewebe bedingt durch defekte Kontrollmechanismen relativ häufig überexprimiert ist; tatsächlich zeigen 20-30% der Mammakarzinome eine mäßiggradige bis stark erhöhte HER2- Expression und werden deshalb als HER2-positiv bezeichnet. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zeigten im Weiteren, dass die Überexpression direkt mit der Aggressivität des Tumorwachstums korreliert. Je mehr Kopien des Gens vorhanden sind, desto aggressiver ist der Tumor und desto kürzer die Überlebenszeit der Patientinnen.
Die Entdeckung von HER2 führt zur Entwicklung von Antikörpern: Die Arbeitshypothese war, dass ein Antikörper durch Andocken am HER2-Rezeptor, einem Zellmembran-Oberflächenrezeptor, die onkogene Funktion von HER2 hemmen würde. Endpunkt der Forschungsergebnisse war die Entwicklung des Medikaments Trastuzumab (Herceptin®). Trastuzumab wurde nach Abschluss der klinischen Prüfungen im Jahre 1998 zur Brustkrebstherapie zugelassen, vorerst als Monotherapie bei metastasiertem, HER-2-positivem Mammakarzinomen oder auch in Kombination mit einem Zytostatikum. Seit 2006 ist Trastuzumab nun auch im adjuvanten Setting (also nach Operation, Chemotherapie und gegebenenfalls Strahlentherapie) bei HER2-positivem Brustkrebs im Frühstadium zugelassen. Weiters wird Trastuzumab auch beim HER2-positiven Magenkarzinom eingesetzt (bei 15-20% aller Magenkarzinome liegt eine erhöhte HER2-Expression vor). Aktuell wurde im St.Gallen-Konsens von 2011 inzwischen auch der Einsatz von Trastuzumab bei pT1b Karzinomen (0,5 – 0,9 cm) empfohlen. Somit erweitert sich wieder das Einsatzgebiet für die erfolgreichste aller modernen zielgerichteten Therapien.
Das Konzept der “Targeted Therapy” gegen ein krankheitsverursachendens bzw. krankheitsförderndes Gen hatte in der Onkologie Einzug gehalten.