Genau diesen Spagat haben aber zahlreiche Höchstgerichte in Europa in den letzten Jahren vollzogen – beginnend mit dem österreichischen OGH 1999, der französischen Kassation mit dem „Arret Perruche“ 2000, dem deutschen BGH, der italienischen Kassation, dem Hooge Raad in Den Haag und erst vor wenigen Monaten dem belgische Höchstgericht in Brüssel. Wir haben also 2 Szenarien:
Genau genommen ist es nicht anders als beim Krebsabstrich:
Der Kabarettist Gerhard Polt hat es in einem seiner Stücke trefflich dargestellt: ein Zivildiener kommt mit einem jungen Mann im Rollstuhl in ein Lokal, ein Gast fängt mit dem Zivildiener über den Kopf des Rollstuhlfahrers ein Gespräch über diesen an, das nur einen Inhalt hat: „Jo hot denn dem sei Mutter net g’wusst, dass ma si da impfen lassen kann, jo is denn die in der Schwangerschaft net zum Doktor gangen?“ – Der Rollstuhlfahrer versucht sich zwar dauernd mit: „Na, i bin beim Arbeiten von der Garage g’fallen“ einzubringen, wird aber völlig ignoriert. Die öffentliche Wahrnehmung der Behinderten als „versäumte Abtreibungen“ (Nicht-Eintreten von Szenario 1a) wird durch die Höchstgerichtsurteile natürlich gefördert.
Offenbar war in Österreich durch eine Vorarlberger Aktivistengruppe ein „Loi Kouchner“ oder „Loi Anti-Perruche“ geplant, wie es die französische Nationalversammlung 2002 verabschiedet hat. Dies war die Folge des „Perruche-Urteils“ des französischen Kassationsgerichtshofes:
Im Jahr 2000 erkannte die Vollversammlung des französischen Kassationsgerichtshofes in einem einstimmigen Urteil, dass Nicolas Perruche, der 1982 geboren wurde, nachdem bei seiner Mutter eine Rötelninfektion in der Frühschwangerschaft nicht erkannt worden war, Entschädigungszahlungen für die Tatsache, dass er lebt, zu bekommen habe. Neu am Fall Perruche war, dass erstmals nicht das Geboren-Werden, sondern das Behindert-geboren-Werden entschädigt wurde. Das Perruche-Urteil entschädigte das Kind selbst – „préjudice personnel de l’enfant“, während die Rechtssprechung bis dahin nur den materiellen Schaden der Eltern entschädigt hatte, und zwar unter den Titeln „préjudice matériel“ sowie „préjudice moral“, dem belastenden Mitansehenmüssen des Leidens des Kindes.
Unter massivem Druck der Ärzte, der Medien, der Versicherungen und der Behindertenorganisationen verabschiedete das Parlament am 4. März 2002 ein Gesetz „Loi Kouchner“, auch „Loi Anti-Perruche“ genannt, das es Gerichten verbieten sollte, Schadenersatz dafür, dass eine Person lebt, zuzuerkennen. Die Emp örung über den Richterspruch war so einhellig gewesen, dass die Abstimmung im Parlament parteiübergreifend vom Front National über Regierung und Opposition bis zu den Kommunisten ging. Proponent des Gesetzes war der sozialistische Abgeordnete und zeitweilige Gesundheitsminister und spätere Außenminister Bernard Kouchner, der Gründer von „Ärzte ohne Grenzen“. Hauptzweck des Gesetzes war, die Behinderten nicht als „versäumte Abtreibungen“ zu klassifizieren.
Es ist schade, dass es in Österreich offenbar unmöglich ist, einen derartigen parteiübergreifenden Konsens der Zivilgesellschaft zu erreichen. Die Gelegenheit wäre zeitgleich zu Frankreich durchaus vorhanden gewesen. Bereits 1999 gab es mit OGH 1 Ob. 91/99 k 1999 ein Urteil, das ganz im Sinne der Geisteshaltung des Perruche-Urteils war: hätten „die Ärzte“ korrekt und gewissenhaft gehandelt, hätte dieses Kind nie geboren werden dürfen. Die Reaktion auf das damalige Urteil war gerade in der Ärzteschaft eher durch die klammheimliche Freude darüber bestimmt, dass es das Wiener AKH „erwischt“ hatte, ansonsten schien der Fall niemanden sonderlich zu erregen. Umso größer war die Erregung 7 Jahre später, als es mit OGH 5 Ob 165/05h 2006 ein Erkenntnis (genau genommen eine Rückverweisung an die erste Instanz) gab, bei der es einen braven niedergelassenen Gynäkologen „erwischte“, weil er seine schwangere Patientin nicht grauslich genug aufgeklärt hatte. Hier kannte die Empörung in Ärztekammer und ärztlichen Medien keine Grenzen. Die massiv attackierten OGH-Richter verstanden die medizinische Welt nicht mehr, da das Urteil von 2006 nur die bereits 1999 festgelegten Grundsätze wiederholt hatte.
Aktueller Pränataldiagnostik-Qualität kein guter Kontext: Die verpasste Chance für ein von einem breiten Konsens getragenes österreichisches Gesetz – ähnlich Frankreich – war nicht nur die Nicht-Aufregung über das erste „Wrongful Life“-Urteil 1999. Auch die Totalverweigerung gegenüber einer struk turierten Pränataldiagnostik für alle Schwangeren durch Gesundheitsministerium, Mutter-Kind-Pass-Kommission und So zialversicher ungs träger trägt einiges dazu bei. Österreich war – nach Norwegen und Deutschland – das dritte Land weltweit, das Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft für alle Schwangeren ermöglicht hat. Leider hat man es immer verabsäumt, zu definieren, was der Zweck des Ultraschalls ist. Diese Aufgabe hatte dann der OGH mit dem Urteil von 1999 übernommen, wo er den Ultraschall ziemlich knallhart als „Entscheidungshilfe für oder gegen das Kind“ definierte. Das ist jetzt auch schon wieder 12 Jahre her.
Es ist derzeit tatsächlich so, dass mindestens die Hälfte der österreichischen Schwangeren – wenn überhaupt – nur eine „Pränataldiagnostik light“ durch insuffizient ausgebildete ultraschallende ÄrztInnen an oft inferioren Ultraschallgeräten bekommen. Was viele Ärzte – und nicht nur Prof. Husslein – an dem jetzt diskutierten Gesetzesvorschlag des haftungsfrei Stellens von fehlerhafter Pränataldiagnostik so ärgert, ist die Tatsache, dass die Enthebung von haftungsrechtlichen Konsequenzen der landesweit über weite Strecken insuffizienten Pränataldiagnostik nur dazu führen wird, dass die angebotene Leistung noch schlechter und, so wie früher, in den Spitälern den Berufsanfängern überlassen wird – weil es ja eh wurscht ist. Allerdings, selbst wenn die Gesetzesänderung von einem Konsens aller Parteien getragen würde, würde sie wahrscheinlich dasselbe Schicksal wie das „Loi Anti-Perruche“ in Frankreich ereilen:
Insuffiziente Entschädigungen für behindert Geborene als Argument des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Bereits 2005 hob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Teile des französischen Gesetzes auf, nachdem Eltern von Kindern mit Fehlbildungen dagegen geklagt hatten. In zwei Erkenntnissen vom 6. 10. 2005 (Fälle Maurice und Draon) wurde Frankreich mit einem einstimmigen Votum aller 17 Richter der großen Kammer des Gerichtshofes verurteilt: Teile des „Loi Anti- Perruche“ wurden als im Widerspruch zur Euopäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehend erklärt. Die Richter beurteilten die Entschädigungen, die die Kläger bisher erhalten hatten, als „klar insuffizient“. Artikel 1 des Protokolls N. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention erkennt für jede physische Person das Recht auf Respekt seiner Güter, d. h. auch das Recht auf Entschädigungszahlungen, die ein Gericht festlegt.
Frankreich habe mit der Bestimmung, dass das „Loi Anti-Perruche“ rückwirkend anzuwenden ist, verhindert, dass behindert geborene Kinder ihre Ansprüche auf Entschädigungs zahlungen durchsetzen können. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass die vom französischen Gesetzgeber angekündigte bessere Unterstützung behindert geborener Kinder nicht umgesetzt wurde. Familien, die durch das „Loi Anti-Perruche“ an einem Gerichtsverfahren gehindert wurden, bekämen keine adäquate Entschädigung.
In Österreich bekam der im Dezember in Begutachtung gesandte Gesetzesentwurf einen für einen Ministerentwurf noch nie dagewesene Flut an ablehnenden Stellungnahmen: die Tiroler Kinder- und Jugendanwaltschaft und die Österreichische Ärztekammer waren dafür, der Oberste Gerichtshof, der Rechnungshof, das Gesundheitsministerium, die Versicherungsverbände, die Patientenanwälte und zahlreiche andere Institutionen und Verbände waren dagegen.
Man kann also annehmen, dass der Entwurf, egal nach welcher Modifikation, nie zum Gesetz werden wird – vergleichbar der Situation in Belgien, wo ein ähnlich lautender Gesetzesentwurf seit 2007 wartet, dass sich wieder eine Regierung bildet, die ihn behandeln kann.
Einer Klage vor dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg würde der österreichische Gesetzesentwurf – würde er verabschiedet und zur Anwendung kommen – genauso wenig standhalten, wie es das französische Gesetz konnte.